Sonntag, 10. September 2017

Abtei Cluny - erster europäischer Großkonzern dank windiger Finanzgeschäfte - Honi soit qui mal y pense

Modell Abbaye de Cluny (im hellen Ton der erhaltene Rest)

Nach unserer Burgundreise des vergangenen Jahres (Burgundreise 11.-16.10.2016) finden wir bei Recherchen zahlreiche Medienberichte anlässlich des 1100-jährigen Jubiläums der Abtei Cluny im Jahr 2010.(1) Auf dem Höhepunkt europäischer Romanik entwickelte sich das Kloster im 11./12. Jahrhundert zum ersten europäischen Großkonzern. In seiner Blütezeit kontrollierte die Abtei ca. 1.200 Klöster mit ca. 20.000 Mönchen in ganz Europa. Allein in Cluny lebten bis zu 400 Mönche. Um das Kloster entstand eine ummauerte Stadt mit mehreren bis heute erhaltenen Wehrtürmen. Äbte von Cluny waren Ratgeber von Kaisern, Königen, Fürsten und Päpsten. Aufgrund des Investiturstreits suchte Papst Gelasius II Zuflucht in Cluny, wo er 1019 verstarb.
Das Versäumnis, den Besuch der Abtei im Vorjahr versäumt zu haben, heilen wir auf der aktuellen Reise (Spätsommer in Südfrankreich 9.-24.09.2017). Nach Übernachtung im angenehmen Chambre d'hôtes L'Armarius in der mittelalterlichen Altstadt von Cluny (Département Saône-et-Loire in der Region Bourgogne-Franche-Comté) besichtigen wir Cluny(2) und die Reste der ehemaligen Abtei Cluny(3), ehe wir die Reise nach Roussillon im Naturpark Luberon (Département Vaucluse in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur) fortsetzen. Was wir in Cluny sehen und lernen, ist diesen Zwischenstopp wert!(4) - Fotogalerien: Abbaye de Cluny - Cluny - Chambre d'hôtes L'Armarius

Baugeschichte der Abtei Cluny im Überblick
Palais Papst Gelasius II., ClunyAbbaye de Cluny Die 910 gegründete Benediktinerabtei wuchs über mehrere Jahrhunderte schnell, sodass die erste Abteikirche 981 erweitert (Cluny II) und ab 1089 von einem monumentalen Neubau abgelöst wurde (Cluny III, Weihe 1095, Ausbau bis im 12. Jh.). Ein 187 m langes fünfschiffiges Langhaus war mit zwei Querschiffen überbaut. Das 30,48 m hohe Gewölbe des Hauptschiffes überspannte 12,20 m. Bis zum Neubau von Sankt Peter im Vatikan war Cluny III das größte christliche Kirchengebäude.

Mit der Reformation und den Religionskriegen geriet das Kloster in eine Krise. Internationalen Einfluss hatte es bereits vorher verloren. Kardinal Richelieu machte im 17. Jh. eine kurze neue Blüte möglich. Die französische Revolution bewirkte eine Aufhebung der Abtei, deren Besitz konfisziert wurde. Die endgültige Zerstörung erledigte die Stadt Cluny. Sie teilte die Abtei in vier Teile, ließ eine Straße durch das Mittelschiff legen und veräußerte Gebäude per Auktion. Neue Besitzer nutzten Gebäude der Abtei als Steinbruch und verkauften Steine als Baumaterial. Napoleons ehrgeizige Feldzüge benötigten u.a. viele Pferde. Um Platz für eine Pferdezucht zu schaffen, wurde die Abteikirche 1810 gesprengt. 1821 setzte ein Umdenken ein. Die Ruinen sollten erhalten bleiben. 1862 wurde die Abtei unter Denkmalschutz gestellt. Auch wenn die Abtei zum Jubiläumsjahr 2010 für 17 Millionen Euro renoviert wurde, müssen sich Besucher mit Gebäuderesten, Rekonstruktionen und virtuellen Animationen begnügen. Dass die komplette Geschichte erst mit eigener Wahrnehmung entsteht, macht den Besuch besonders reizvoll.

Kapitell Opferung Isaaks, Cluny III, 12. Jh, Abbaye de ClunySäulenkapitell Abbaye de Cluny


Warum und wie kam es zur Blüte von Cluny?
Spannender als die Baugeschichte ist die Frage, wie eine Institution mit Gebet und Lithurgie als Hauptaufgabe über Einfluß und Ansehen hinaus zu derartigem Reichtum und beispielloser Macht- und Prachtentfaltung gelangen konnte, zumal Cluny sich zusätzlich zur Armenfürsorge verpflichtet hatte. Aus der Armenfürsorge entstanden mit der Zeit Kosten, die aus dem Klosterbetrieb nicht gedeckt werden konnten.(5) Klöster besaßen zwar oft große Ländereien, die sie an abgepflichtige Bauern verpachteten, aber diese Einnahmequellen waren nicht unendlich dehnbar und reichten für die Deckung des wachsenden Bedarfs nicht aus.

Ansehen und Einfluss als religiöse Instanz erzielte Cluny durch die insbesondere von den Äbten Berno (919–925), Odo (927–942) und Odilo (994–1049) forcierte Cluniazensische Reform. Frömmigkeit und Rückbesinnung auf Ideale mögen ehrbar sein, materiellen Ertrag generieren sie jedoch nur mit einem erfolgreichen Geschäftsmodell.

Bereits auf Abt Odilo geht der bis heute begangene Allerseelentag zurück, mit dem Totenkult kirchenamtlich als Feiertag besiegelt wurde. Abt Hugo (1024-1109) dachte strategisch. Er verstand, dass Cluny wachsen muss, um seinen Fürsorge-Verpflichtungen nachkommen zu können. Er wusste, dass Wachstum Einnahmequellen benötigt, um finanziert werden zu können. Abt Hugo erkannte schlummerndes Potential. Er nutzte Versatzstücke eines bereits lange praktizierten Totenkult und des Ablasshandels, um aus der Mischung ein für den Anbieter risikoloses Finanzprodukt zu entwickeln, das lediglich einen nicht prüfbaren immateriellen Gegenwert versprach. Das Finanzprodukt bauten die cleveren Mönche zu einem äußerst erfolgreichen Geschäftsmodell aus.

Im Mittelalter waren Menschen tief in Religiosität verwurzelt und darum extrem um ihr Seelenheil besorgt. Ähnlich wie zu allen Zeiten, führten sie nicht stets ein gottgefälliges Leben, obwohl sie täglich das Weltgericht erwarteten. Wohlhabenden Klienten (das war vor allem der Adel) bot Cluny als Makler zwischen Himmel und Erde seinen Kunden gegen Honorar Fürbitten für deren Seelenheil und das Seelenheil ihrer Verstorbenen an. Seelenheil wurde käuflich. Von diesem Angebot machte der Adel regen Gebrauch. In Spitzenzeiten beteten 400 Mönche rund um die Uhr für das Seelenheil ihrer Klienten. Wohlhabende Adelige verbesserten Chancen ihres Seelenheils, wenn sie sich gegen Bares eine Grabstätte in der Kirche reservieren ließen. Plätze nahe beim Altar waren natürlich besonders teuer. Honi soit qui mal y pense.

Größe und Prächtigkeit der Kirche steigerten die Überzeugungkraft der Anbieter und stärkten Begehren und Vertrauen auf Seiten der Nachfrager.(6) Vermeintlich wichtige Reliquien zogen zusätzlich zahlreiche Pilger an, die zum Umsatz beitrugen. Dank seiner Dienstleistungsindustrie erwirtschaftete Cluny Kapital, mit dem sich die Abtei zu einem Großkonzern entwickelte und Cluny III gebaut werden konnte. Mit Größe und Reichtum von Cluny wuchsen Bedeutung und Macht des Klosters. Abt Hugo erlebte neun Päpste. Er war Vertrauter von Papst Gregor VII. und der deutschen Kaiser Heinrich III. und Heinrich IV., dessen Taufpate er war. Er vermittelte im Streit zwischen Kaiser Heinrich III. und König Andreas I. von Ungarn sowie im Investiturstreit zwischen Kaiser Heinrich IV. und Papst Alexander II.. Bedeutung, Engagement und Verdienste Hugos würdigte die katholische Kirche mit dessen Heiligsprechung im Jahr 1121. Das Heiligenlexikon verklärt die Persönlichkeit Hugos.(7) Hugos Lebensführung war gemäß normativen Vorstellungen seiner Zeit vielleicht untadellig oder sogar vorbildlich, aber Hugo war kein Märtyrer. Für Kandidaten, die nicht als Märtyrer gelten, erfordert der Prozess der Heiligsprechung den Nachweis eines Wunders. Nachweise benennt das Heiligenlexikon nicht. Honi soit qui mal y pense.(8)

Die Annahme, dass die Zielgruppe der Vermögenden bewusst getäuscht und 'gemolken' wurde, ist kühn. Analogien zu unseriösen Erfolgs- und Renditeversprechen von Finanzberatern und Maklern in der Gegenwart nähren diesen Verdacht. Die Frage der Intentionalität der frommen Mönche lässt sich nicht schlüssig beweisen. Offensichtlich sind jedoch Asymmetrien, die hoch gebildeten Mönchen nicht entgangen sein können.

'Win-Win-Strategien' sind ein Begriff der Gegenwart, aber keine Erfindung der Neuzeit. Nichts spricht gegen einen Interessenausgleich zwischen gleichwertigen Partnern bei fairer Verteilung von Chancen und Risiken. Am Geschäftsmodell von Cluny sind keine gleichwertigen Partner beteiligt und Chancen wie Risiken einseitig verteilt. Der Klerus verfügt über das Deutungsmonopol hinsichtlich des Seelenheils von Menschen und schürt zugleich Ängste, von denen sich Laien nur mit klerikaler Investmentberatung vermeintlich befreien können. Das Kloster erzielt Umsatz mit Versprechen bei minimalen Selbstkosten. Klienten zahlen einen hohen Preis und übernehmen vollständig das Risiko des Gegenwertes. Honi soit qui mal y pense. 

Nicht zuletzt steht die Frage im Raum, warum Artikel über Cluny dieses dunkle Kapitel der Abtei-Geschichte aussparen oder bestenfalls nur zart andeuten. Dass die katholische Kirche wenig Interesse an einer Aufarbeitung dieser Thematik zeigt, ist nachvollziehbar. Ob die Tourismus-Branche mit dieser Haltung gut fährt, ist fragwürdig, aber unerheblich. Die Frage zielt eher in Richtung Historiker und Kunsthistoriker. 

Anmerkungen
  1. Medienberichte anlässlich des 1100-jährigen Jubiläums im Jahr 2010:
    - Neue Zürcher Zeitung: Cluny leuchtet
    - Der Tagesspiegel: Stille Tage in Cluny
    - Der Spiegel: Armut und Maßlosigkeit
    - ntv: Bauklötze der Maßlosigkeit
    - Die Welt: Lange stand hier die größte Kirche des Abendlandes 
  2. Tourismusportal Cluny
  3. Abtei Cluny im Tourismusportal Frankreich, auf der Webseite Abbaye de Cluny, Eintrittspreis: 9,50 € Erwachsene
  4. PDF-Tourismusbroschüre Cluny
  5. Im Kloster waren nicht nur einige ständige Wohnplätze für Arme eingerichtet. Die Gründungsurkunde bestimmte, dass Armen, Bedürftigen, Pilgern und Fremden, die des Weges daher kamen, Werke der Barmherzigkeit zu erweisen seien. Außerdem hatte ein Mönch wöchentlich Notleidende in Cluny aufzusuchen, um ihnen zu helfen.
    Nachdruck erhielt die Armenfürsorge durch eine regelbasierte Verbindung zum lithurgischen Totengedenken. Essensrationen verstorbener Mönche wurden über 30 Tage sowie jeweils am Todestag eines Mönchs an Arme ausgegeben. Mit der Größe der Klosters wuchsen Anzahl von Mönchen und deren Todesfälle. Mitte des 12. Jahrhunderts sollen es 18 000 Verstorbene gewesen sein, für die diese Form des Totengedenkens praktiziert wurde. 
  6. Herrschaftssitze und Verwaltungsgebäude von Großkonzernen folgen schon immer gleichen Überlegungen. Sie sind selten rein funktional konzipiert und meistens mit Symbolik befrachtet, die Vertrauen suggerierende Versprechen der Bedeutsamkeit, Solidität und Solvenz vermitteln.
  7. Stadlers Heiligenlexikon: Hugo von Cluny
  8. Ob von Cluny angeregt oder auch nicht, entwickelte Bernhard von Clairvaux (1090-1153) im nachfolgenden Jahrhundert ein ähnliches Modell, als er Ostern 1146 in Vézelay zum 'Heiligen Krieg' des zweiten Kreuzzugs aufrief und Teilnehmern des Kreuzzuges Sündenerlass und direkten Einzug in das Paradies ohne Umwege versprach. Zwar endete auch dieser Kreuzzug als ein Debakel, das vielen Menschen Hab, Gut und Leben kostete, was jedoch Bernhards Heiligsprechung im Jahr 1174 nicht im Wege stand. Über Bernhards Wunderwirken kursieren zahlreiche Legenden, u.a. das 'Milchwunder' (Maria lactans). Mittelalterliche Darstellungen zeigen Bernhard, wie er Milch aus der Brust Marias erhält (Lactatio Bernardi). 

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