Sonntag, 24. April 2022

Stopover mit Erinnerungen in Ehra-Lessien und Überraschungen in Salzwedel

Katharinenkirche, ab 1280, Salzwedel Blick aus dem Fenster des Hotelzimmers Ehemaliges Rathaus Salzwedel
 
Unsere Frühjahrsreise an die Ostseeküste von Mecklenburg-Vorpommern gehen wir gemächlich in 2 Etappen mit Zwischenstop in Salzwedel an. Die Hansestadt ist Kreisstadt des dünn besiedelten und landschaftlich unspektakulären Altmarkkreis Salzwedel in Sachsen-Anhalt. Von 1263 bis 1518 war Salzwedel Mitglied der Hanse und erreichte durch Handel einen beträchtlichen Wohlstand, den zahlreiche sehenswerte Bauwerke der historischen Altstadt auch noch in der Gegenwart dokumentieren. Allerdings verfielen zur DDR-Zeit die meisten historischen Bauwerke. Nach der Wende verließen zahlreiche Einwohner die Stadt, was weiteren Verfall begünstigte. Dank großer Anstrengungen schaffte Salzwedel eine zweite Wende und stellt sich aktuell als eine schmucke Kleinstadt dar, in der historische Gebäude der Altstadt bis auf Reste aufwändig restauriert sind. Inzwischen ist die historische Altstadt nicht nur für Besucher sehenswert, sondern auch für Bewohner lebenswert, sodass Einwohnerzahlen höher sind als zur Zeit der Wende im Jahr 1989. Aktuell hat die Kleinstadt Salzwedel inkl. 48 Ortsteilen und 17 eingemeindeten Ortschaften etwas mehr als 23.000 Einwohner. - Touristische Broschüre Salzwedel (PDF) - Eigene Fotoserie
 
 
Ehra-Lessien und der Truppenübungsplatz
 
Auf der Anreise nach Salzwedel durchqueren wir kurz vor Erreichen des Altmarkkreis Salzwedel die Gemeinde Ehra-Lessien im Landkreis Gifhorn, Niedersachsen, die vor der Wende im strukturschwachen Zonenrandgebiet lag und mit 35 Einwohnern je qkm noch immer zu den am dünnsten besiedelten Gebieten Deutschlands zählt. Die Durchreise weckt Erinnerungen an einen einwöchigen Schießübungaufenthalt, an dem ich vor 51 Jahren im Rahmen der Wehrpflicht teilnehmen musste. Auf dem seit 2013 geschlossenen Truppenübungsplatz Ehra-Lessien übten wir mit scharfer Munition den Umgang mit Maschinenpistolen, Maschinengewehren, Handgranaten und Panzerfäusten sowie den Häuserkampf. 
 
Damals stellte sich gleich am Anfang des Aufenthaltes ein Lagerkoller ein, aus dem sich Randale und Handgreiflichkeiten entwickelten, als die Kantine planmäßig um 22:00 Uhr schließen wollte. Mehrere angetrunkene Soldaten, darunter einige Kameraden unserer Kompanie, verhinderten das Schließen und verlangten weiteren Bierausschank, bis schließlich Feldpolizei anrückte und das Spiel beendete. An den restlichen Abenden blieb die Kantine geschlossen, was Übellaunigkeiten in der Truppe beträchtlich steigerte. Unabhängig vom Lagerkoller hasste ich den Aufenthalt und die Übungen. In der aktuellen politischen Situation wird fraglich, ob sich die Übungen vielleicht noch als nützlich erweisen können. 
 
 
Salzwedel im Altmarkkreis
 
Hotel Katharinenhöfchen, Salzwedel Innenhof Hotel Katharinenhöfchen, Salzwedel Innenhof Hotel Katharinenhöfchen, Salzwedel
 
Als Unterkunft für eine Nacht entscheiden wir uns für das Hotel Katharinenhöfchen an der Katharinenkirche, eine große, dreischiffige Backsteinbasilika, die ab 1280 entstand. Das Hotel bietet in zwei benachbarten, sanierten Fachwerkhäusern maximal 22 Gästen Platz. Mit unserer Wahl sind wir ausgesprochen zufrieden. Unser Zimmer hätten wir uns im Detail ein wenig 'gemütlicher' gewünscht, aber über 'Gemütlichkeit' kann man selbstverständlich sehr unterschiedlicher Meinung sein. Lage und Charme des Hauses, die charmante Gastgeberin und ein reichhaltiges Frühstück bewirken einen positiven Gesamteindruck, der unsere Erwartungen deutlich übertrifft.
 
Marienkirche, ab 1150, Salzwedel Hauptschiff Marienkirche mit Triumpkreuzgruppe Blick vom Chor der Marienkirche in das Hauptschiff
 
Schnitzaltar der Marienkirche Chorgestühl (um 1360) der Marienkirche Salzwedel Chorgestühl (um 1360) der Marienkirche Salzwedel

Nachdem wir im Hotel eingecheckt sind, unternehmen wir einen unvorbereiteten Rundgang durch die Altstadt, bei dem uns wahrscheinlich etliche sehenswerte Details entgehen und Informationen über sich direkter Anschauung entziehender Hintergründe fehlen. Eine fachkundige Führung durch die Altstadt wäre ein Gewinn. Glücklicherweise entgeht uns nicht die Marienkirche als Highlight unseres Rundgangs. Die ursprünglich romanische Kirche wurde bis 1550 mehrfach um- und zu einer fünfschiffigen Basilika im gotischen Stil ausgebaut. Höhepunkte der Ausstattung sind das Chorgestühl, dessen älteste Teile aus dem Jahr 1360 sind, der 1510 aufgestellte große Holzschnittaltar im Chor sowie die von Joachim Wagner konzipierte barocke Orgel, die nach Wagners Tod seine Schüler vollendeten. 
 

Restaurant heimart in Salzwedel
 
Kunsthaus mit Restaurant heimart, Salzwedel Restaurant heimart, Salzwedel Karamellisierter Ziegenkäse auf Roter Beete mit Wasabi, Sesam und Apfel

Für unser Dinner haben wir im Restaurant heimart reserviert, das im multifunktional aufgestellten Kunsthaus Salzwedel residiert. Das Gebäude wurde als höhere Mädchenschule (Lyzeum) errichtet und 1906 in Betrieb genommen. Nach der Wende realisierte die 2012 gegründete Kunststiftung Salzwedel bis 2015 eine umfassende Sanierung des maroden Gebäudes und ein tragfähiges Konzept der Nutzung. 
 
Das im modernen Bistrostil eingerichtete Restaurant bietet mit kleiner Karte eine zeitgemäß-qualitätsbewusste Küche, die ohne Burger und Pommes als Zugeständnisse an lokale Essgewohnheiten vermutlich keine Überlebenschance hätte. Auf der Karte finden wir erfreulicherweise auch kreative Gerichte, die sich nicht mit Sterne-Küchen messen wollen, aber hinsichtlich Qualität von Produkten, Handwerk, Geschmack und Präsentation deutlich oberhalb bürgerlicher Mainstream-Küche einzuordnen sind. Traditionell sind unsere Nachbarn in den neuen Bundesländern eher Biertrinker, was einer kleinen Weinkarte anzumerken ist, die auf deutsche Weine fokussiert, aber auch einige ausländische Produkte enthält. Wir wählen aus der überschaubaren Auswahl von Qualitätsweinen der Pfalz und aus Rheinhessen einen Sauvignon Blanc vom VDP-Weingut Gunderloch, mit dem wir alles richtig machen. Weniger Freude bereitete uns die Hintergrundmusik vom Typ 'Disco-Bum-Bum', was in Anbetracht unserer eher nicht mehrheitsfähigen Musikvorlieben nicht als relevante Kritik erwähnt ist, sondern lediglich angemerkt sei.
 
 
Salzwedels berühmte starke Frauen 
 
Wie üblich, weist die Liste von Persönlichkeiten der Stadt Salzwedel in Wikipedia vor allem Männer aus. Frauen bilden Ausnahmen. Zwei dieser Ausnahmen verdienen besondere Erwähnungen und verstärken unsere Sympathie für Salzwedel.
  • In Salzwedel geborene Jenny von Westphalen (1814-1881) war ebenso attraktiv wie gebildet und von Heiratskandidaten höherer Kreise umworben. Karl Marx warb lange um ihre Hand, bis Jenny 1843 einwilligte. Als Ehefrau war Jenny nicht nur Marx' Sekretärin, sondern auch Lektorin und Kritikerin seiner Arbeiten. Karl Marx sprach von Jenny als ein "Meisterstück der Natur"
    Deutschlandfunk: Jenny von Westphalen: Ein Leben mit und für Karl Marx
  • Ein Besuch in der Buchhandlung von Helga Weyhe war leider nicht möglich, weil die alte Dame am 4. Januar 2021 plötzlich verstorben ist und der Buchladen inzwischen nicht mehr existiert. Helga Weyhe (1922-2021) galt als älteste Buchhändlerin Deutschlands und betrieb bis zu ihrem Tod im Alter von 98 Jahren ihren ererbten Buchladen in der Altstadt von Salzwedel in 3. Generation persönlich mit Leidenschaft. Helga Weyhe verkaufte nur Bücher, die sie kannte und wertschätzte. Ihr Schwerpunkt lag nämlich weniger auf Verkauf, sondern eher auf Beratung. Natürlich konnte sie nicht sämtliche vertriebene Bücher komplett lesen, aber sie hat alle Bücher mindestens durchgesehen und gemäß ihrer Qualitätskriterien auf Verkaufswürdigkeit geprüft. Besonders liebte sie Reiseliteratur und Kinderbücher. Krimis mochte sie gar nicht, wobei es auch Ausnahmen gab.

    Anlässlich ihres 90. Geburtstages wurde Helga Weyhe 2012 zur Ehrenbürgerin von Salzwedel ernannt sowie 2017 mit dem Deutschen Buchhandlungspreis für langjährige und herausragende Verdienste um den Deutschen Buchhandel geehrt. Übrigens ist Helga Weyhes Ururgroßmutter die Patentante von Jenny von Westphalen.

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