Samstag, 16. Mai 2015

Menschenschlachthaus am Sonnenstein über der sehenswerten Altstadt von Pirna

Blick vom Schloss Sonnenstein auf die Altstadt von Pirna
Nach einer Wanderung auf den Lilienstein (1) unternehmen wir einen Kulturausflug nach Pirna. Die Stadt ist uns von mehreren Besuchen vertraut, überrascht aber immer wieder neu. Über der Altstadt befindet sich auf einem Felsplateau eine mächtige Festungsanlage mit einer langen und entsprechend wechselvollen Geschichte. Als Grenzburg sicherte die Festung ehemals die Elbfurt eines Handelsweges. In der Anlage von Schloss Sonnenstein entdecken wir die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, deren Ausstellung an ein finsteres Kapitel jüngerer deutscher Geschichte erinnert. Mit einem Rundgang durch die Altstadt von Pirna endet unser Ausflug.
Fotoserie der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein
Fotoserie Pirna






Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein
Anlagen von Schloss Sonnenstein werden seit dem 18. Jahrhundert für Heil- und Pflegeanstalten sowie psychiatrische Einrichtungen zivil genutzt. Während der NS-Zeit war in dem Komplex eine von insgesamt sechs Tötungsanstalten der NS-Euthanasie-Aktion T4 untergebracht. Mehr als 70.000 Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen wurden von 1940 bis 1941 systematisch in den Tötungsanstalten durch Vergasung ermordert und anschließend verbrannt. Fast 15.000 Morde sind in Pirna dokumentiert. Dass die Bevölkerung ahnungslos war, ist unwahrscheinlich. Graue Busse fuhren täglich durch die Stadt und brachten Opfer zur Tötungsanstalt.(2) Schwarzer Rauch der Krematoriumöfen und merkwürdige Gerüche waren kaum zu ingorieren. Eine Aufarbeitung dieses traumatischen Kapitels deutscher Geschichte versandete bald nach dem 2. Weltkrieg. Ärzte der Tötungsanstalten praktizierten weiter. Erst als viele Täter nicht mehr lebten, begann ab ca. 1980 eine systematische Aufarbeitung. Bis 1999 wurden 438 Strafverfahren eingeleitet, von denen nur 6,8% mit rechtskräftigen Urteilen endeten, darunter zahlreiche Freisprüche.(3)



Spur der Erinnerung
Spur der Erinnerung zur Gedenkstätte Pirna-sonenstein
Nach 1945 dienten Anlagen von Schloss Sonnenstein unterschiedlichen Zwecken. Öffentliche Wahrnehmung und gewollte politische Aufarbeitung der Tötgungsanstalt fanden in der ehemaligen DDR nicht statt und setzten erst mit der politischen Wende ein. Im Juni 2000 wurde die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein eingeweiht.(4) Ein aus 16 Tafeln bestehendes Wegweisersystem führt vom Pirnaer Bahnhof über das Stadtzentrum zur Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein. Farbige Kreuze, von denen jedes an ein Opfer erinert, bilden aus Pirna eine Spur der Erinnerung zur Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein und enden in einem Kellerraum der Gedenkstätte an transparenten Geweben, auf denen Namen mit Geburtsjahren der Opfer gedruckt sind.





Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein
Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein
Im Außenbereich der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein ist der Hang des Schlossberges als Gräberfeld gestaltet. Asche vergaster und verbrannter Opfer wurde auf den Hang gekippt. Zuvor wurden teilweise Organe für medizinische Untersuchungen entnommen und übrig gebliebene Knochen zermahlen.









Dokumentationsraum der Gedenkstätte Pirna-Sonnensten
Der Innenbereich der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein verteilt sich auf 2 Ebenen. Eine Ausstellung dokumentiert auf der 3. Etage die Geschichte der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein. Methoden, Täter und Handlanger sind beschrieben. Die Rolle der Bevölkerung und eine fragwürdige Aufarbeitung nach 1945 bleiben nicht ausgespart.  










Dokumentierte Opferschicksale im Warteraum
Der Keller der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein konfrontiert Besucher mit den Räumen der Tötung. Im ehemaligen Warteraum der Vergasung ist stellvertretend für alle Ermordeten das Schicksal von 22 Opfern dokumentiert. 












Kaminraum des Krematoriums
Krematorium-Raum
Spuren der ehemaligen Tötungseinrichtungen wurden bereits in der NS-Zeit verwischt. Methoden der Archäologie ermöglichen die Aufarbeitung. Rekonstruktionen und Modelle machen in den ehemaligen Original-Räumen der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein deutlich, wo sich Gaskammer, Leichenraum, Krematorium, Brennöfen und Kamin befanden, wie die Anlage ausgestattet war, wie die Tötungsprozesse abliefen. Obwohl ein Besuch kostenlos ist, können wir nur geringes öffentliches Interesse erkennen. Nur 4 weitere Besucher begegnen uns während unseres Rundgangs. Der Biergarten auf dem Schloßberg ist deutlich besser besucht und in der Altstadt sind zahlreiche Touristen unterwegs.





Rathaus auf dem Marktplatz Pirna
Marktplatz Pirna
Jeder Rundgang durch die Altstadt von Pirna führt über den zentralen Marktplatz. Den Platz dominiert das im Stil der Renaissance gebaute Rathaus. Die den Platz umgebenden Gebäude sind nicht weniger sehenswert.










Tetzelhaus in der Schmiedegasse
In einer Seitenstraße der Altstadt treffen wir in der Schmiedegasse auf eines der ältesten Häuser der Stadt. Das um 1381 errichtete Gebäude ist als Tetzelhaus bekannt, weil vermutlich in diesem Haus um 1460 der Dominikanermönch Johann Tetzel geboren wurde. Der dubiose Ablassprediger wurde zum Gegenspieler Martin Luthers, der den Ablasshandel anprangerte. Johann Tetzels Ablasshandel gilt als Anlass für Luthers Thesenanschlag und damit als ein Auslöser der Reformation.







Anmerkungen
  • (1) Post vom 16. Mai 2015
  • (2) Das 2005 von Horst Hoheisel und Andreas Knitz entworfene Denkmal der grauen Busse erinnert an die Opfer der Krankenmorde der nationalsozialistischen „Aktion T4“ (so genannte „Euthanasie“). Einer von zwei begehbaren Betonbussen in Originalgröße ist an der ehemaligen Heilanstalt Ravensburg-Weißenau aufgestellt. Der zweite Bus wechselt seine Standorte. Vom 1. September 2011 bis zum 18./19. April stand der Betonbus in Köln am Rheinufer vor dem Hauptgebäude des Landschaftsverbandes Rheinland (als Rechtsnachfolger des Provinzialverbandes der Rheinprovinz). Inzwischen steht am Standort vor dem Landeshaus des LVR in Köln-Deutz ein Nachguss des mobilen Denkmals als Symbol der dauerhaften Auseinandersetzung des LVR mit seiner Psychiatrie-Geschichte.
  • (3) Jürgen Schreiber: Schuld ohne Sühne. Die juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ in der Bundesrepublik Deutschland. In: Aktion Sühnezeichen (Hrsg.) Zeitschrift zeichen 01/2010, S. 17 / Dirk W. de Mildt (Hrsg.): Tatkomplex NS-Euthanasie. Die ost- und westdeutschen Strafurteile seit 1945, Amsterdam 2001, ISBN 978-90-8964-072-7.
  • (4) Der Besuch der Gedenkstätte ist kostenlos. 

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