Eine glaziale Bodden-Landschaft, weitläufige Strände, seltene Flora und Fauna in ökologischen Nischen von Naturschutzgebieten sowie Natur-, Boden- und Kulturdenkmäler machen die Insel Rügen für zahlreiche Menschen attraktiv und rechtfertigen unterschiedlich motivierte Reisen nach Rügen. Mit Blick auf Motiven von Einwohnern und Besuchern stellt Rügen sich ähnlich vielgestaltig mit mehreren Gesichtern dar wie der vierköpfige slawische Hauptgott Svantovit, dessen ihn symbolisierende Säule bis zum 12. Jahrhundert in einem Tempel des Heiligtums Jaromarsburg am Kap Arkona aufgestellt war. Ein dänisches Heer zerstörte die Kultstätte, unterwarf den slawischen Stamm der Ranen und christianisierte die Bevölkerung, die darüber sicherlich nicht glücklich war. Christianisierung war ohnehin nur ein Vorwand der Rechtfertigung dänischer Machtansprüche. Prinzipien haben sich bis heute nicht verändert. Geändert haben sich lediglich Namen, Grenzverläufe und Mittel der Manifestierung von Macht. Geblieben ist Vielgestaltigkeit.
Tourismus MV und Rügen: (Zahlen des Jahres 2019 vor Corona)
- Mecklenburg-Vorpommern ist laut Statista knapp hinter Bayern das beliebteste deutsche Inlandreiseziel.
- Rügen und Hiddensee haben zusammen ca. 64.300 Einwohner
- 2019 wurden für Rügen und Hiddensee 1,48 Mio. Ankünfte und 7,2 Mio. Übernachtung registriert. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer betrug 4,8 Tage. Statistisch sind Rügen und Hiddensee in absoluten Zahlen die beliebtesten deutschen Ost- und Nordseeinseln vor Usedom und Sylt.
- 2023 reichen die Übernachtszahlen fast an die Werte von 2019. (Statista)
- Im Vergleich zu 2022 verlieren 2023 Inlandsreiseziele 3 % an Auslandreiseziele. (Tourismusanalyse MV)
Grob sind drei Hauptinteressenlagen in wahrscheinlich individuell variierender Qualität identifizierbar. Zu Qualität und Größenordnungen weicher Daten individueller Interessenlagen sind nur Vermutungen möglich. Anmerkungen des Kapitels "Tourist Trap Rügen?" fokussieren auf die nachfolgend aufgeführten Gruppen 2 und 3.
- Auf nachhaltige Lebensweise fokussierte verantwortungsbewusste Menschen, zu denen sicherlich ein Anteil von Besuchern und Einheimischer zählt, versteht die ökologische und kulturelle Vielfalt der Insel Rügen als ein erhaltenswertes Erbe und hat Sorge, dass diese Vielfalt durch Übernutzung zunehmend zerstört wird.
- Ein Anteil einheimischer Besitzer und externer Investoren betrachtet die Insel mit wirtschaftlicher Motivation und sieht sie als eine im kurzfristigen zeitlichen Horizont für eigenen Bedarf kommerziell nutzbare Ressource.
- Der vermutliche größere Anteil aller Besucher und wahrscheinlich auch Einheimischer macht sich hinsichtlich der Abwägung von Gemeinwohl vs. Eigennutz vermutlich wenig Gedanken um Gemeinwohl und umso mehr Gedanken um eigenes Wohlergehen, ohne wahrzunehmen, dass vermeintliche Bedürfnisse subjektiven Wohlergehens durch kommerzielle Interesse von Anbietern manipuliert und fremdbestimmt werden.
Wie ist die Zahl von ca. 1,5 Millionen Touristen zu bewerten?
Die Aussagekraft der Zahl von 1,5 Millionen Gästeankünften bei 64.300 Einwohnern von Rügen inkl. Hiddensee wird verständlich, wenn man sie mit touristisch bedeutenden deutschen Städten und Sylt vergleicht (Zahlen jeweils aus dem Jahr 2023):
- Rügen inkl. Hiddensee: 1,5 Mio. Gästeankünfte, 64.300 Einwohner = 23,2 Touristen pro Einwohner
- Köln: 3,8 Mio. Gästeankünfte, 1 Mio. Einwohner = 3,8 Touristen pro Einwohner
- München: 4,3 Mio. Gästeankünfte, 1,5 Mio. Einwohner = 2,9 Touristen pro Einwohner
- Berlin: 12 Mio. Gästeankünfte, 3,8 Mio. Einwohner = 3,2 Touristen pro Einwohner
- Sylt: 727.850 Gästeankünfte, 18.500 Einwohner = 40,0 Touristen pro Einwohner
Aus dieser Perspektive ist die Zahl von 23,2 Touristen pro Einwohner für Rügen inkl. Hiddensee sicherlich hoch, sie wird aber von Sylt sehr deutlich um 72 % übertroffen. 1,5 Millionen Touristen reisen nicht gleichzeitig nach Rügen/Hiddensee, sondern verteilen sich über das Jahr. Allerdings herrscht in Wintermonaten Flaute. Voll wird es in der Hauptsaison (Juli und August), wenn in Sommermonaten Bade- und Camping-Tourismus in touristischen Zentren der Insel boomen. Der Ausbau touristischer Infrastruktur lässt weiteres Wachstum erwarten.
In der Hauptsaison bilden sich auf Hauptverkehrsrouten Staus. Beliebte Restaurants sind ausgebucht. In Supermärkten müssen Kunden an Kassen länger anstehen. In touristischen Hotspots (das sind vor allem die Badeorte Binz, Sellin, Göhren) können Aufenthalte unangenehm werden. Das keinesfalls schmeichelhaft verwendete Schlagwort der Ver-Syltung von Rügen gilt insbesondere für diese Orte. Hotels der Luxuskategorie und zahlreiche, auf hochpreisige Angebote zielende Neubauprojekte stellen weitere Steigerungen in Aussichten. Ohne Nachfrage gäbe es keine Angebote. Offensichtlich treffen touristische Angebot den Bedarf einer Majorität der Besucher.
Wer Rügen liebt, aber touristischen Rummel nicht mag, vermeidet die Hauptsaison und steigt dort ab, wo es ruhiger ist und sich ein naturnäherer Aufenthalt realisieren lässt. Auf Rügen bestehen glücklicherweise etliche dieser Regionen. Wie lange die Halbinsel Mönchgut noch dazu zählt, ist jedoch fraglich. Mit Ausnahme des unter Denkmalschutz stehenden Dorfs Groß Zicker sind in jüngster Zeit in allen Orten der Halbinsel zahlreiche neue Unterkünfte entstanden und weitere Bautätigkeiten zu erkennen.
Tourist Trap Rügen?
Tourist Traps (Abzockerei von Touristen) sind kein für Rügen typisches Phänomen, sondern global an allen touristischen Hotspots zu finden. Nachfolgend sind aus subjektiver Sicht sieben Rügener Tourist Traps beschrieben.
1 Nationalpark Jasmund
Der alte Buchenwald des Nationalparks Jasmund und der spannende Hochuferweg lohnen einen Besuch des Nationalparks unbedingt. Der Besuch ist grundsätzlich kostenlos, wenn Besucher die Nutzung gebührenpflichtiger Infrastruktur vermeiden. Wenn sie das nicht tun, geht der Besuch ins Geld. Außerdem sollten diese Besucher einfache Rechenarten beherrschen.
- Der Besuch des Nationalparkzentrums kostet inkl. des neu errichteten Skywalk Königsstuhl stolze 12 € pro Ewarchsener. Kinder zahlen 6 €. Eine Familienkarte (2 Erwachsene und bis zu 6 Kinder) kostet 25 €. Unberücksichtigt bleibt bei der Preisgestaltung, dass aktuell am Skywalk Behinderungen durch Bauarbeiten bestehen.
- Wer mit dem Auto anreist, zahlt am Parkplatz Hagen 6 € Parkgebühr.
- Die Nutzung des Shuttle-Busses über 4 km vom Parkplatz zum Nationalparkzentrum kostet 2 x 2,10 € für Erwachsene und 2 x 1,40 € ermäßigt.
- Als Preistip wird ein Kombiticket (Parkplatz, Shuttel, Eintritt) mit 21 € pro Erwachsener beworben. Einzeln anreisende Erwachsene sparen 1,20 €. Da Parkplatzgebühren nur einmalig pro Auto anfallen, wird das Kombiticket ab dem zweiten mitreisenden Besucher zum Verlustgeschäft. Bei separater Buchung kosten Eintritt und Bus in Summe 16,20 €. Wenn 2 Erwachsene mit einem Auto anreisen und Kombitickets lösen, zahlen sie 3,80 € drauf. Bei jedem wieitern Mitreisenden erhöht sich der Verlust um jeweils weitere 3,80 €.
- Für mitgeführte Hunde muss ein separates Ticket gelöst werden.
2 Kap des Grauens (Arkona)
Wer auf Rügen das Flächendenkmal Kap Arkona besucht, trifft auf ein völlig überlaufenes Paradebeispiel für Touristennepp des Massentourismus und läuft Spießrute durch ein Spalier von Ständen für Fast Food, Eis, Getränke, Souvenirs und anderen Nippes. An seriösen Informationen interessierte Besucher erleben ein Kap des Grauens.
- Der Parkplatz Putgarten kassiert derzeit 8 €.
- Wer den Weg von ca. 2 km vom Parkplatz zum Kap oder nach Vitt nicht zu Fuß zurücklegen kann oder will, kann sich von einer Bimmelbahn fahren lassen (einfache Fahrt 4 € pP, Kombiticket inkl. Vitt 6 €) oder eine der am Parkplatz wartenden Pferdekutschen nutzen (Preise sind im Internet nicht veröffentlicht).
- Der Leuchtturm und der Peilturm kassieren jeweils 3 € Eintritt von Besuchern.
- Der Schinkelturm ist ausschließlich für Hochzeiten reserviert. Allein die Gebühr für die Nutzung des Trauzimmers beträgt 399 €.
- Das südlich gelegene, unter Denkmalschutz stehende Fischerdorf Vitt ist in der Gegenwart eine aus Shops und Gastronomien bestehende Attrappe eines ehemaligen Fischerdorfs.
- Wer anreist, um vor allem das Plateau des Kaps mit Resten eines slawischen Burgwalls und die vorgelagerte Kreideküste zu besuchen, erfährt erst vor Ort, dass Plateau und Küste wegen der Gefahr von Abbrüchen an der Kreideküste nicht zugänglich sind.
3 Naturerbezentrum (Erlebniszentrum) Rügen
Auf Rügen bestehen etliche Ökosysteme, die als Naturschutzgebiete oder von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt als Naturerbe ausgewiesen sind. Eine solche Fläche gibt es auch bei Binz. Das benachbarte sogenannte Naturerbe-Erlebniszentrum bei Prora ist jedoch mit ihrem Baumwipfelpfad eher ein Schaustellergeschäft.
- Preise: Erwachsene 14 €, ermäßigt 12 €, Familienticket 33 €
- Abfahrt mit der Rutsche 2 €
- Parken PKW 3 €, Wohnmobil/Camper je nach Parkplatz 4 € / 5 €
4 Sand-Skulpturen-Ausstellung Prora
Wer freiwillig in die Falle des Erlebniszentrums geht, den wird vermutlich die Sand-Skulpturen-Ausstellung in Nachbarschaft der Brutal-Architekur Prora nicht abschrecken.
- Preise: Erwachsene 13,50 €, ermäßigt 12,50 €, Kinder 9,50 €, Familienticket 32,50 € - 40,00 €
- Begleitheft 1 € / 2,50 €
- Parkgebühren werden auf der Webseite nicht genannt. Laut Tripadvisor werden 2 € kassiert.
- Besuchern mit zuviel Geld bieten eine Food Halle und ein Bücherzirkus weitere Optionen.
5 Bade- und Erlebniswelt Sellin
Badelandschaften sind in Deutschland weit verbreitet und scheinen beliebt zu sein. Warum Rügen-Urlauber gerade hier eine Badelandschaft besuchen, erschließt sich nicht allen Menschen. Wer die Badelandschaft in Sellin besucht, sollte nicht minderbemittelt sein.
- Bis zu einer Stunde kostet der Besuch für Erwachsene 10 € und für Kinder 6,50 €.
- Ein Aufenthalt von bis zu 3 Stunden kostet 18 € bzw. 14 € pro Person.
- Die Tageskarte wird mit 23 € bzw. 17,50 € pro Person berechnet.
- Die Familientageskarte 2 + 2 kostet 55 € und jedes weitere Kind 6 €.
- Wer die Sauna nutzen möchte, zahlt zusätzlich 6 € pro Person.
- Zusätzlich bestehen Sonderregelungen zu vergünstigten Preisen.
- Ggf. fallen Parkplatzgebühren an.
6 Karls Tourismus in Zirkow, Rügen
Der Senior des Familienbetriebs bewirtschaftete vor dem Zweiten Weltkrieg einen Hof in der Nähe von Rostock. Nach 1945 siedelte die Familie nach Schleswig-Holstein um und spezialisierte sich auf den Anbau von Erdbeeren, die sie an Schwartau lieferte. 1968 übernahm Oetker die Schwartauer Werke. Mit der Wende von 1989 kaufte Schwartau Erdbeeren im Osten günstiger ein. Der Erdbeerhof war nicht mehr konkurrenzfähig und musste umdenken. Die Familie verlegte den Betrieb zurück nach MV, erweiterte den Hofladen und entwickelte eine neue Unternehmensphilosophie als Erlebnishof.
Aus einem ehemaligen Erdbeerbauern, der noch immer Erdbeeren anbaut und vertreibt, ist seit 1993 nach und nach ein Erdbeer-Disneyland mit inzwischen ganzjährig ca. 700 Mitarbeitern und ca. 2.800 Saisonkräften in 7 Erlebnisdörfern gewachsen (2024). 5 weitere Erlebnisdörfer sind für die beiden nächsten Jahre geplant, u.a. in Oberhausen (NRW), Bayern und in den USA.
Das Konzept besteht aus einer Mischung von Hofladen, Manufaktur,
Restaurant, Fahrbetrieben, einem Hotel am Ur-Standort Rövershagen sowie
einem Online Shop. Während Erwachsene sich gastronomisch bewirten lassen und ihrer Shopping-Sucht nachgehen,
sind Kinder auf verschiedenen Abenteuereinrichtungen versorgt. Eintritt
und Parkplatz sind grundsätzlich kostenlos. Fahrgeschäft, Attraktionen
und alle anderen Angebote sind kostenpflichtig. Das Geschäft scheint sich zu rechnen. 2023 erzielte das Unternehmen einen Jahresumsatz von fast 200 Mio. € (NDR, 26.03.2024). Über erzielten Gewinn sprechen die Eigentümer nicht.
Seit 2012 betreibt das Unternehmen auf Rügen das Erlebnisdorf Zirkow mit bis zu 9.000 Besuchern pro Tag. Attraktionen im Erlebnisdorf Zirkow sind die Familienachterbahn Big Apple, eine Kinderachterbahn, Rutschbahn, Kletterturm, Seilbahn, Schaukel, Karussell und eine Schienenbahn. Die öffentliche Hand spendierte an der Abzweigung von der B 192 zum Erlebnisdorf eine Verkehrsregelung per Ampelanlage.
Was hat Karls Erlebniswelt mit Rügen zu tun? Genauer betrachtet nichts bzw. so viel oder so wenig wie eine Badewelt oder deutschlandweit verbreitete Einzelhandelsketten. Offensichtlich geht es darum, nach Rügen reisende Besucherströme für das eigene Geschäft abzugreifen und möglichst zusätzliche Besucher anzuziehen. Wirtschaftlich gilt das im auf Konsum und Wachstum programmierten Kapitalismus als Win-win-Situation, weil auf Rügen Arbeitsplätze entstehen und aus Umsätzen Steuereinnahmen generiert werden, die als Gewerbesteuer an die Gemeinden fließen. Ökologische Aspekte von Naturverträglichkeit und Nachhaltigkeit machen niemand satt und müssen daher hinter Wirtschaftsaspekten zurückstehen. Wir vergnügen uns solange, bis das Leben endgültig keine Freude bereitet. Bis dahin tanzen wir in das eigene Verderben.
7 Parken auf der Insel Rügen
Besucher reisen überwiegend mit dem Auto an und sind auf der Insel oft auf die Nutzung des Autos angewiesen, weil das öffentliche Nahverkehrsnetz ziemlich löchrig ist. Groß Zicker, wo wir regelmäßig wohnen, wird nur 8x pro Tag von der Buslinie 21 bedient, aber nur mit Glück. Busse können auch ausfallen. Zu verkehrsärmeren Zeiten bestehen im Fahrplan Lücken von 2 bis zu 3 Stunden.
Solche Konstellationen erlauben Abzockerei mit Parkgebühren, die je nach Lage der Parkplätze variieren. Bis auf wenige, nur schwer zu findende und meistens abgelegene Ausnahmen, sind alle öffentlichen Parkplätze kostenpflichtig. Einheimische behaupten mitunter, dass Parkgebühren zur Verkehrsberuhigung beitragen. Dieses Argument ist nicht schlüssig und eher unehrlich. Wenn die Reduzierung des individuellen Autoverkehr politisch gewollt wäre, müssten die öffentliche Verkehrsinfrastruktur leistungsfähiger ausgebaut und Parkplatzflächen reduziert werden.
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