|
Fenster im Plantaturm des Klosters St. Johann, Müstair |
Am Tag des Umzugs von
Glurns
nach Tschars nutzen wir in Anbetracht des Regens den Vormittag für einen
intensiveren Besuch des Klosters St. Johann, das im schweizerischen Teil
des
Münstertals im Kanton Graubünden liegt. Von der Existenz des Klosters
wussten
wir seit vielen Jahren, aber erst der Stundenweg vom Kloster St. Johann
in
Müstair zur Abtei Marienberg bei Burgeis hat uns auf die
außerordentliche
kulturhistorische Bedeutung dieses Klosters aufmerksam gemacht, das zu
den zehn UNESCO Weltkulturerbestätten der Schweiz zählt. Zusätzlich
motiviert hat uns die Aussicht auf eine Führung in der
Heiligkreuzkapelle, die
wegen laufender Forschungs- und Restaurierungsarbeit nicht öffentlich
zugänglich ist.
Link: Fotoserie Link: Webseite des Klosters
Besichtigung der Klosterkirche
|
Kloster St. Johann, Müstair |
Wir beginnen unseren Rundgang
in der Klosterkirche, deren Substanz aus karolingischer Zeit stammt. König Karl
der Lombardei, der im Jahr 800 mit seiner Kaiserkrönung im Aachener Dom zu
‚Karl dem Großen’ aufstieg, stiftete im Jahr 775 dieses Kloster, dessen Bau
nicht nur religiös motiviert war, sondern auf eine politische Vision und
Strategie zurückgeht, die Karl in den Folgejahren konsequent umsetzte. Das Fundament karolingischer Strategie
bildeten Klöster, unter denen Müstair zu den wichtigen im karolingischen
Reich zählte.
|
Blick in die Apsiden der Klosterkriche St. Johann, Müstair |
Um das Jahr 800, das Jahr der Kaiserkrönung, wurde der gesamte Innenraum der Klosterkirche
mit einem Freskenzyklus ausgeschmückt, der die christliche Heilsgeschichte in
der Art eines Wandteppichs ausbreitet. Die deutlich byzantinisch beeinflussten
Fresken gerieten lange Zeit in Vergessenheit, weil sie um das Jahr 1200
romanisch übermalt wurden. Unter dem Einfluss von Feuchtigkeit lösten sich im
vorigen Jahrhundert die romanischen Fresken allmählich von ihrem karolingischen
Untergrund und legten damit diesen Schatz frei, der das Kloster 1983 zum UNESCO-Weltkulturerbe
erheben ließ. Die schwierigen
Lichtverhältnisse in der Klosterkirche erlauben keine guten Fotografien der realen Eindrücke. Ein
Besuch vor Ort ist Interessierten absolut zu empfehlen. Die Kirche ist
kostenlos zu besichtigen.
Dank Johannes Frieds großartiger
Arbeit über das Mittelalter (Johannes Fried: Das Mittelalter, Geschichte und
Kultur, München 2008) lernen wir, dass Karl auf seinem Weg an die Macht keineswegs
zimperlich war. Widerstände und Risiken räumte er auf brutale Art selbst dann
aus, wenn es um die eigene Familie ging. Als Karl mit der Kaiserkrönung das
Zentrum abendländischer Macht besetzte, scheint er seine Rolle neu definiert zu
haben. Die Macht schien für Karl kein persönliches Privileg zu sein, sondern
eine vor Gott zu rechtfertigende Verantwortlichkeit für die Menschheit. Karl
erkannte die Bedeutung von Bildung und Erziehung und wandelte sich zu einem Weisen,
zu ‚Karl dem Großen’. Er rief ein ehrgeiziges Programm ins Leben, das erst
Jahrhunderte später Früchte tragen sollte und in der Rückbetrachtung als
Aussaat abendländischer Wissenschaftskultur gelten kann. Karl dachte offensichtlich
langfristig, strategisch und verantwortungsbewusst, eine Denkweise, die wir
heute als ‚nachhaltig’ bezeichnen!
Besuch des Museums im Kloster St. Johann, Müstair
|
Blick vom Kreuzgang in den Innenhof des Klosters |
Für den Besuch des Museums
sind 12 SFR (ca. 10 €) pP zu entrichten. Für die Führung ist noch einmal der
gleiche Preis zu zahlen. Wir befinden uns in der Schweiz und müssen uns an
Schweizer Maßstäben und Gepflogenheiten orientieren. Der Eintrittspreis hat uns
bei unserem vorherigen Besuch abgeschreckt. Da unsere Führung erst in 1,5
Stunden beginnt, überwinden wir heute diese Hürde und schätzen uns im
Nachhinein glücklich, dass uns diese Erfahrung nicht entgangen ist.
Zunächst betreten wir den
östlichen Kreuzgangflügel, der als Gang bereits auf die karolingische
Architektur zurückgeht, aber erst mit dem Ausbau als Bischofsresidenz 1035
seine Gestalt erhielt und zunächst als Atrium der Bischofsresidenz angelegt
war. Vom Kreuzgang blicken wir in den Innenhof des Klosters mit seinem
Kräutergarten.
|
Marmorfragment einer karolingischen Engelsfigur |
Das eigentliche Museum
befindet sich im ‚Plantaturm’, der mit seinem charakteristischem
Schrägdach und
seinen Dachzinnen eine auffällige Besonderheit der Klosterarchitektur
darstellt. Der Turm wurde 960 als bischöflicher Wohn- und Wehrturm
errichtet. Sein
Name geht auf die Äbtissin Angelina Planta zurück. Nach dem Klosterbrand
im
Engadiner Krieg von 1499, der auch in St. Veit auf dem Tartscher Bühel
Spuren hinterlassen hat, ließ Angelina Planta den Turm neu ausbauen und
in das
Kloster integrieren. Die im Plantaturm ausgestellten Exponate reichen
von der
karolingischen Epoche über Romanik und Gotik bis zum Barock. Als
besonders eindrucksvoll
empfinden wir Fragmente marmorner Chorschranken. Die archetypischen
Motive der
allegorischen Darstellungen weisen weit über die karolingische Zeit in
die
Kulturgeschichte zurück und zeigen eine ungewöhnliche Ausdrucksstärke.
Ähnlich
beeindruckend sind Glasfragmente aus karolingischer Zeit.
Führung in der Heiligkreuzkapelle
|
Heiligkreuzkapelle des Klosters St. Johann |
|
Heiligkreuzkapelle des Klosters St. Johann, Müstair |
Die Führung in der
Heiligkreuzkapelle ist mit der Dauer von einer Stunde angesetzt. Tatsächlich
dauert sie fast 1,5 spannende Stunden, die den Preis von 12 SFR (10 €) mehr als
rechtfertigen. Zwischen der Qualität der Führung auf dem Tartscher Bühel und
der heutigen Führung liegen Welten.
Unser Guide ist eine Frau aus
dem Dorf, deren Alter wir auf Mitte Dreißig schätzen. Sie ist keine Wissenschaftlerin
oder akademische Expertin, sondern bezeichnet sich selbst als ‚Bäuerin’, die
sich für die kulturelle Thematik rund um das Kloster, seine Geschichte und die
historischen Kontexte interessiert und begeistert. Über die Zeit hat sie sich ein
profundes Wissen angeeignet, dass sie uns gut strukturiert in freier Rede
vermittelt. Erst am Ende der Führung zieht sie einen Zettel aus der
Hosentasche, um sicherzustellen, nichts Wichtiges vergessen zu haben. Unserem
Guide gelingt es nicht nur, über fast 1,5 Stunden eine heterogene Gruppe von
etwa 20 Personen, von denen vermutlich alle einen akademischen
Bildungshintergrund haben, mit ihrem Vortrag zu fesseln, sie weiß auch, mit
allen Anmerkungen und Fragen souverän umzugehen. Diese Frau beeindruckt uns. Sie
vermittelt uns über alte Historie ein lebendiges Erlebnis, das nicht schnell
verblassen wird.
Außenführung
|
Apsiden der Kapelle |
|
Architekturübersicht |
|
Fensternische in Hufeisenform |
Die Führung beginnt mit der
Betrachtung der von außen sichtbaren Architektur, während der wir Informationen
über Funktion und Baugeschichte der zweistöckigen Kapelle erhalten. Erbaut
wurde die Kapelle mit dem Ur-Kloster im 8. Jahrhundert und ist seit dieser Zeit
in ihrer ursprünglichen Form weitgehend erhalten geblieben. In späterer Zeit
wurden zusätzliche Apsidenfenster eingefügt und die Eingänge verlegt.
Das Obergeschoss der Kapelle
war ursprünglich ein bischöflicher Gebetraum, den ein überdachter Gang mit dem
ehemaligen Bischofspalais verband, das heute Teil des Museums ist. Das
Untergeschoss der Kapelle diente bis vor kurzem über mehr als 12 Jahrhunderte
als Totenkapelle des Unterdorfes, das den historischen Ortskern bildet. Die
Glocke in dem kleinen Glockenturm wird auch noch heute geläutet, wenn ein
Einwohner des Unterdorfs verstirbt.
Der Grundriss der Kapelle
bildet mit seinen drei Apsiden ein byzantinisches Kreuz nach und macht den
Einfluss byzantinischer Kultur deutlich. Die aktuelle Forschung konnte zeigen,
dass die Fensternischen ursprünglich eine Hufeisenform aufwiesen, ein ebenfalls
byzantinisches Stilelement, das in nachfolgenden Jahrhunderten kaschiert wurde.
Für den Namen der Kapelle
gibt es keine sichere Erklärung. Als denkbar erscheint, dass eine
Holzsplitter-Relique des heiligen Kreuzes namensgebend war. Der Name könnte
sich aber auch auf den Grundriss der Kapelle beziehen.
Hinsichtlich der Frage, ob
die auf dem Dach erkennbare Luke eine spirituelle oder nur profane Bedeutung
hat, gibt es keine Einigung. Unser Guide favorisiert eine Erklärung, gemäß der
jedes Kirchendach eine Luke benötige, um dem Heiligen Geist einen Zugang zu verschaffen
und verstorbene Seelen in den Himmel fahren können. Pragmatischer denkende
Teilnehmer halten dagegen, dass jedes Dach eine Luke habe, um ggf. für
Reparaturen auf das Dach zu gelangen.
Eindringende Feuchtigkeit hat
der Kapelle über mehr als 1200 Jahre große Schäden zugefügt. Inzwischen wurde
das Mauerwerk getrocknet und gegen das erneute Eindringen von Feuchtigkeit
gesichert.
Führung im Untergeschoss
|
Führung im Untergeschoss der Heiligkreuzkapell |
Im Untergeschoss wurden
Verstorbene vor ihrer Bestattung auf dem Klosterfriedhof aufgebahrt. Der Boden
der Kapelle ist nicht versiegelt. In dem Boden wurden Skelette einiger Kinder
und auch Erwachsener gefunden. Vermutlich handelt es sich um Ungetaufte, die
nicht in der geweihten Erde des Friedhofs bestattet werden konnten.
Die Decke des Untergeschosses
gilt als die älteste tragende Holzdecke in Europa. Mittels dendrologischer
Untersuchungen ist gesichert, dass die östliche Hälfte der Holzdecke noch im
Originalzustand erhalten ist. Die Bäume der tragenden Balken wurden im Jahr 788
gefällt. Die westliche Hälfte der Decke musste 1021 nach einem Brand ersetzt
werden. Besondere Aufmerksamkeit erregt ein Deckenbalken mit der Darstellung
eines Feldes für ein Mühlespiel. Möglicherweise haben die Zimmerleute dieses
Spiel beim Bau der Kapelle gespielt. Der Thron Kaiser Karls im Aachener Dom zeigt
ein ähnliches Feld. Ob Kontexte bestehen und welcher Art sie ggf. sind, ist
ungeklärt. Die Marmorplatten des Aachener Throns stammen aus der Jerusalemer
Grabeskirche, weshalb die als Mühlespiel gedeutete Symbolik auf einer dieser
Marmorplatten nicht karolingisch sein muss.
|
Barockes Totenschiff mit den sozialen Ständen |
Wir schauen auf die
alten
Fundamente und Teile des ursprünglich nicht verputzten Mauerwerkes. In
späteren
Jahrhunderten wurde die Wand verputzt und mehrfach übermalt. Die
Wandbemalung
auf der rechten Seite des Raumes stammt aus dem Barock und zeigt ein
Totenschiff mit dem Tod als Fährmann. Die dargestellten Personen in dem
Schiff
repräsentierten die sozialen Ständen und stehen als Metapher für die
Sterblichkeit aller Menschen, unabhängig von ihrem sozialen Stand.
Allerdings sind die Stände gemäß ihrem Status abgestuft
dargestellt. Die höchste Position besetzt der Papst, vor Kaiser, König,
Kardinal, Herzog, Bischof usw. Das Schlusslicht bildet der Bettler an
dreizehnter
Stelle. Auf der gegenüberliegenden Wand ist das gleiche Motiv in einem
Stil
dargestellt, der älter wirkt. Das synthetische Blau der Wandfarbe
erlaubt
jedoch keine Datierung vor dem 18. Jahrhundert. Die jüngere Bemalung
stellt Personen
nur noch als Totenschädel auf gleicher Höhe dar. Die Stände
symbolisieren Hüte auf
den Totenschädeln.
Führung im Obergeschoss
|
Obergeschoss der Heiligkreuzkapelle |
|
Obergeschoss der Heiligkreuzkapelle |
|
Obergeschoss der Heiligkreuzkapelle |
Das Obergeschoss ist der
Altarraum der Kapelle, den wir über die originalen Marmorschwellen aus
karolingischer Zeit betreten. Die Wände waren von Beginn an verputzt und
bemalt. Die Bemalung wurde mehrfach wiederholt, so dass heute Spuren aus
karolingischer, romanischer, gotischer und barocker Zeit zu finden sind.
Insgesamt lassen sich zwölf Schichten identifizieren. Die letzte Wandfarbe
wurde in einem hellen Ockerton erst vor einigen Jahren aufgetragen, weil die
Klosterschwestern meinten, dass in der Kapelle ein Anstrich fällig sei.
Ausgeführt hat diese Arbeit der Ehemann unserer Führerin, der sich als auch als
Maler betätigt.
Die Zuordnung der
Farbfragmente zu Motiven und Zeiten ist außerordentlich schwierig und hat die
Experten lange beschäftigt. Die Analysen sind inzwischen abgeschlossen. Noch
nicht entschieden ist, in welchem Zustand die Kapelle als Gebetraum wieder
zugänglich gemacht wird. Grundsätzlich gilt das konservatorische Prinzip, nicht
unbedingt die ältesten, sondern die am besten erhaltenen Motive zu zeigen. Gut
erhalten ist jedoch von der historischen Ausmalung nur wenig.
|
Altar im Obergeschoss |
|
Altar im Obergeschoss |
Bei dem Altar in der
Mittelapsis handelt es sich nicht um den ursprünglichen Altar. Original erhalten
sind noch das Fundament des Originalaltares sowie die marmornen Altarstufen. Im
Zuge der Sanierungsarbeiten wurde der später hinzugefügte aktuelle Altarblock
unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit und im Beisein wichtiger
Persönlichkeiten geöffnet. Das Fernsehen war anwesend und berichtete über die
Entnahme der Reliquienbehälter, die jetzt im Kloster aufbewahrt sind und nach
Abschluss der Arbeiten wieder eingesetzt werden.
Ursprünglich war der Altar
mit marmornen Chorschranken vom Innenraum abgetrennt. Fragmente dieser
kunstvoll gearbeiteten Chorschranken aus karolingischer Zeit, deren
archaische Motive jedoch wesentlich älter sind, haben wir im Museum des
Klosters betrachten können.
|
Holzdecke im Obergeschoss |
|
Fenster der Seitenapsis mit Kirchturm |
|
Detailmotiv der Holzdecke |
Während des Engadiner Kriegs,
den jeder Bewohner des Münstertal mit der ‚Calvenschlacht’ verbindet, brannte
1499 die Heiligkreuzkapelle ebenso wie St. Veit auf dem Tartscher Bühel. Nach
dem Brand musste in dem Obergeschoss der Heiligkreuzkapelle eine neue Holzdecke
eingezogen werden, die somit aus dem frühen 16. Jahrhundert stammt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen