Samstag, 20. Juli 2013

Südtirol 2013 - Prokulus Kirche und Museum in Naturns - Frühe Kulturgeschichte im Vinschgau

St. Prokulus modern interpretiert am Prokulus Musuem
Am Umzugstag vom ‚Falatschhof’ im Obervinschgau nutzen wir die Zeit bis zum Bezug des ‚Ferienhauses Falzrohr’ im Mittelvinschgau  für einen Besuch der Prokulus Kirche und des gleichnamigen Museums in ‚Naturns’. Wir haben das Glück, dass zum Zeitpunkt unseres Besuchs eine Führung stattfindet. Der Führer erweist sich als profunder Experte und unterhaltsamer Plauderer, der sensibel und humorvoll auf die unterschiedlichen Voraussetzungen von Besuchern eingeht und auf Fragen keine Antworten schuldig bleibt. Diashow der Fotoserie
Diashow weiterer Motive in Naturns







Der Innenraum der Prokulus Kirche

Prokulus Kirche, 7. Jahrhundert, Naturns
Das dem Heiligen Prokulus gewidmete kleine Kirchengebäude wirkt auf den ersten Blick eher unscheinbar und bescheiden. Bei genauerer Betrachtung offenbart sich ein bedeutendes Kulturdenkmal des Alpenraums und der europäischen Frühgeschichte.










Innenraum mit Apsis und Altar der Prokulus Kirche
1912 wurden unter dem mit gotischen Fresken ausgemaltem Innenputz des Kirchenraums wesentlich ältere Fresken entdeckt. Nachdem die jüngere Putzschicht mit den gotischen Fresken abgetragen ist (erhaltene Fragmente sind im Prokulus Museum ausgestellt), werden Wandmalereien sichtbar, die als die ältesten Fresken im deutschsprachigen Kulturraum gelten. Eine genauere Datierung ist wegen der Einzigartigkeit dieser Fresken unsicher, weshalb die Datierung etwas unscharf und zur Abgrenzung gegenüber kunstvolleren Fresken im Kloster St. Johann, Münstertal, oder in St. Benedikt, Mals, als ‚vorkarolingisch’ eingeordnet ist.





Fresken mit Darstellung der Prokulus-Legende
Schematisch-naive Stilelemente verweisen auf irisch-schottische Buchmalereien. Irische und schottische Mönche missionierten im 8. Jahrhundert den Alpenraum. In diesem Zeitraum könnten auch die Fresken entstanden sein. Die bekannteste Darstellung des Bilderzyklus zeigt den Heiligen Prokulus scheinbar auf einem Seil schaukelnd. Prokulus war im 3. – 4. Jahrhundert Bischof von Verona in Oberitalien. Das Christentum konkurrierte zu dieser Zeit mit anderen Religionen. Prokulus musste aus Verona flüchten. Die Fresken stellen seine Flucht dar, die ihm gelang, weil Helfer (rechts) ihn abseilten. Eine Gruppe von Frauen (links von Prokulus dargestellt, aber auf diesem Foto nicht zu sehen) beklagt das Unglück.





Engeldarstellung
Engeldarstellung
Links und rechts vom Altarraum bewachen Engelfiguren das Heiligtum. Die Gestalter dieser Fresken orientieren sich an der Vorstellung von Engeln als körperloser, sphärischer Wesen, indem sie ihre Engelfiguren aus Wolken herauswachsen lassen.














Vorkarolingische Fresken
Maria als apokalyptische Frau (Maria)
Die gotischen Fresken des 14. Jahrhunderts sind von den naiven Darstellungen der frühen Fresken weit entfernt. Sie stellen in hoher handwerklicher Qualität religiöse Fundamente des Christentums dar, wie Abendmahl und Kreuzigung, wobei sie erzählerische Motive in bildliche Darstellungen übersetzen. Umgeben vom Strahlenkranz der Sonne will das Marienbild der stillenden Mutter nicht nur eine Gottesmutter zeigen, es verklärt Maria zugleich zur 'Himmelskönigin'. Das Mondgesicht zu ihren Füßen ist ein Symbol christlicher Ikonographie, das ab dem Spät-Mittelalter als Mondsichel dargestellt wird ('Mondsichelmadonna'). Die Symbolik verweist auf die apokalyptische Frau in der Offenbarung Johannes 12,1-6.



Aspekte der Integration unterschiedlicher Kulturen

Über die Bedeutung von Architektur und Malerei hinaus ist bemerkenswert, wie Elemente unterschiedlicher Kulturen zusammengeführt sind, um die verschiedenen Welten (bewusst oder unbewusst?) zu verbinden.
Den gesamten Raum umspannt oberhalb der figürlichen Fresken ein Band, das nebeneinander antike Mäander und keltisches Geflecht symbolisiert. Beide Darstellungsformen bilden als Labyrinthe Fallen für böse Geister, die sich in diesen Labyrinthen verirren. Um ihre Wirkung entfalten zu können, dürfen diese Bänder nicht unterbrochen sein. Über dem Altarraum ist jedoch eine Unterbrechung mit der göttlichen Hand in einem Kreis dargestellt, die böse Geister nicht zu überwinden vermögen.

In Südtirol sind mehrere Kirchen Prokulus und Zeno gewidmet, was auf oberitalienische Einflüsse verweist. Sprach- und Schriftanalysen lassen annehmen, dass das im Vinschgau zur Römerzeit ansässige Volk der Räter aus Oberitalien eingewandert ist und von etruskischem Ursprung ist. Mit Ausweitung des römischen Machtbereichs sind Etrusker möglicherweise in den Alpenraum ausgewichen. Irritierend ist aus heutiger Sicht die Darstellung einer römischen Göttin in einem Kirchengebäude.

Anmerkungen zur Architekturgeschichte der Prokulus Kirche

Der im 7. Jahrhundert errichtete Kirchenraum überbaut vermutlich ein antikes römisches Heiligtum. Die heutige Ortschaft ‚Naturns’ lag nämlich in der Antike unmittelbar an der ‚Via Claudia Augusta’, eine Römerstraße, die das Machtzentrum in Rom über die Alpen hinweg mit den römischen Nordprovinzen verband.

Über die Bauherren des ältesten christlichen Gebäudeteils bestehen zwar Legenden, aber kein gesichertes
Wissen. Unser Führer berichtet von einer Legende, der zur Folge ein nicht christianisierter Germane eine christliche Langobardin aus Oberitalien geehelicht haben soll. Die Gattin war unter den Heiden unglücklich und bekam Heimweh. Um den Schmerz zu lindern, habe ihr Gatte den heute als Prokulus Kirche bekannten Kultraum errichten lassen. Dieses Geschenk war jedoch nicht auseichend, um die Langobardin auf Dauer zu binden. Sie soll trotz dieser Bemühungen zurück nach Oberitalien gegangen sein.

Der Turm neben der Kirche ist in Relation zu dem bescheidenen Gebäude völlig überdimensioniert. Vermutlich handelt es sich ehemals um einen Wehrturm aus dem 12. Jahrhundert, der später mittels baulicher Maßnahmen zum Kirchturm umfunktioniert wurde.

Im 14. Jahrhundert fand ein Ausbau des Kirchengebäudes im gotischen Stil statt. Neben einer Erhöhung des Hauptraums wurde die Apsis vergrößert und mit einem exakt nach Osten ausgerichteten Altar ausgestattet. Die Achse des Hauptraums ist nämlich um 10 Grad nach Norden versetzt. Diese Abweichung wird als Störung der Orientierung in Richtung  Orient empfunden.

Mit dem gotischen Ausbau wurde der Innenraum neu verputzt und anschließend mit Fresken im gotischen Stil übermalt. Damit der neue Putz auf dem alten Untergrund haftet, musste der Untergrund aufgeraut sein. Die Spuren dieser Aktion sind nach Abtragung der neueren Putzschicht deutlich zu erkennen.
Die ursprüngliche Holzdecke des Gebäudes erwies sich über die Zeit als Schwachstelle, weshalb später eine Steindecke eingezogen wurde.

Eine im Kirchenboden eingelassene Marmorplatte deckt den Zugang zu einer sieben Meter tief in den Boden reichenden Gruft ab, in der sich die Herren von Schloss Annenberg bei Goldrain über mehrere Generationen bestatten ließen.

Prokulus Museum

Eingangsfront Prokulus Museum, Naturns
Vis à vis der Prokulus Kirche befindet sich seit dem Jahr 2006 das nach außen unscheinbare Museum, das bis auf den Eingangsbereich unterirdisch unter dem Friedhof von Naturns angelegt ist. Über den Prokulus-Kontext hinaus sind archäologische Fundstücke ausgestellt, die von der Frühgeschichte, über die Römerzeit bis in das Mittelalter reichen. Modelle und audiovisuelle Aufbereitungen vermitteln Eindrücke vom Leben von Menschen in der Frühzeit dieses Kulturraums.

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