Mehr als 1000 km von Taschkent entfernt markiert die alte Oasenstadt Chiwa (auch Xiva, Khiva) den Wendepunkt unserer Usbekistan-Reise. Chiwa liegt westlich des Amudarja an einem nach Norden führenden Zweig der antiken Seidenstraße nahe der Grenze nach Turkmenistan.(1) Auf 480 km Distanz zwischen Buchara und Chiwa reisen wir mit dem Golden-Dragon-Bus aus chinesischer Produktion überwiegend durch die Kysylkum-Wüste(2). Die Fahrzeit von ca. 7 Stunden (Gesamtzeit 9:10 Std.) ist für 480 km Strecke nur möglich, weil ca. die Hälfte der Autobahn A380 vierspurig ausgebaut ist.(3) Der Rest der Strecke ist eine weitere Schlaglochpiste und erfordert gemächliche Geschwindigkeit. Nachfragen zu offenkundigen Defiziten werden in Spanien mit der Floskel 'mañana' beantwortet. In Usbekastian ist die Reaktion meistens ein Schulterzucken. Die formellere Antwortet lautet: "Im nächsten Jahr". Landschaftlich ist die Etappe eintönig. Für Abwechslung sorgen abenteuerliche Ortsdurchfahrten, spannende Pausen und hochinteressante Informationen über Alltagskultur, mit denen uns Reiseleiterin Viktoria während der Fahrt unterhält. Bei der Ankunft in Chiwa sind wir erneut überwältigt. Buchara vermittelt ein starkes Orient-Feeling. In Chiwa unternehmen wir eine Zeitreise in den mittelalterlichen Orient. Der vollständig von einer Stadtmauer umgebene historische Stadtkern Itchan-Kala ist aufgrund seines Gesamtbildes seit 1990 UNESCO-Welterbe.
Der aktuelle Post ist Teil einer Post-Serie, die über Etappen und Erlebnisse einer Reise entlang der Seidenstraße in Usbekistan berichtet:
- Reise an die Seidenstraße in Usbekistan im Überblick
- Reise nach Taschkent in Usbekistan
- Reise von Taschkent nach Samarkand an der Seidenstraße
- Reise auf der Großen Seidenstraße von Samarkand nach Buchara-i-Scherif
- Buchara-i-Scherif an der Seidenstraße in Usbekistan - Part 1
- Buchara-i-Scherif an der Seidenstraße in Usbekistan - Part 2
- Weltkulturerbe Chiwa an der Seidenstraße in Choresmien, Usbekistan
- Reise von Chiwa nach Taschkent
Reise durch die Kysylkum-Wüste - Fotoserien: Busreise, Spaziergang
Im Tiefland von Turan erstreckt sich die etwa 200.000 km² große Kysylkum-Wüste zwischen den Flüsssen Syrdarja im Nordosten und Amudarja im Südwesten.(4) Westlich des Amudarja liegt die noch größere Wüste Karakum auf Staatsgebiet von Turkmenistan. Im Norden liegt die durch Verlandung des Aralsees entstandene Wüste Aralkum.(5) Die ökologische Katastrophe am Aralsee ist ein Erbe sowjetischer Wirtschaftspolitik unter Stalin bzw. seiner Entscheidung, den Anbau von Baumwolle in Zentralasien zu konzentrieren. Das für Baumwollplantagen erforderliche Wasser wird den Flüssen Amudarja und Syrdarja entnommen, sodass nur wenig Restwasser des Syrdarja den nördlichen Aralsee versorgt und der Amudarja vor Erreichen des Aralsees in der Wüste versickert.(6) - NASA-Fotos Aralsee
Autobahntypische Rastplätze mit Restauration, Tankstelle, Sanitäreinrichtungen, wie wir sie aus Europa kennen, sind auf der Fahrt durch die Kysylkum nicht anzutreffen, sondern allenfalls Tankstellen, an denen es auch eine Toilette und mitunter einen Kiosk gibt. Die Toilettennutzung ist zwar kostenpflichtig (1000 Sum pP, ca. 10 Cent), was jedoch auf abschreckende hygienische Zustände wenig Einfluss hat. Kioske beschränken sich auf Getränke. Wer Melonen mag, kann sie bei privaten Verkäufern erstehen. Viktoria kennt eine halbwegs akzeptable Toilettenanlage an der Strecke. Weitere 'Gesundheitspausen' verlegen wir in das Gelände (Frauen rechts, Männer links) und nutzen eine dieser Gelegenheiten für einen Spaziergang durch die mit Dornbüschen und niedrigen Pflanzen bewachsene Dünenlandschaft der Kysylkum.
Kizilqum Teahouse in einer Oase der Kysylkum-Wüste - Fotoserie: Kizilqum Teahouse
Ungefähr auf halber Strecke erreichen wir das in einer kleinen Oase liegende 'Kizilqum Teahouse', in dem Viktoria für unseren Mittagsimbiss reserviert hat. Die schlichten flachen Gebäude des Komplexes bilden eine Art von Dreiseitenhof, in dem sich mehrere große Gäste-Säle befinden. Im Eingangsbereich garen auf einem primitiven Grill Schaschlikspieße. Bei höheren Temperaturen lädt ramponiertes Mobiliar zum Aufenthalt im schattigen Innenhof ein. Für Außengastronomie ist es heute zu kühl. Ehe wir in einem der Säle Platz nehmen, besuchen wir am anderen Ende des Hofs das wenig einladende Toilettenhäuschen. Eine Busch-Toilette wäre mir lieber gewesen.
An einer langen Tischreihe stehen Tassen für Tee bereit, der zu einem kleinem Preis als kostenpflichtiges 'Gedeck' für einen Mindest-Umsatz sorgt. Wer möchte, kann zusätzlich eine Gemüsesuppe oder/und Schaschlikspieße mit Fleisch vom Lamm, Hammel oder Rind ordern. Alles andere hat Viktoria am Vortag und am Morgen eingekauft. Auf den Tisch kommen Brot, Käse, Melonen, Tomaten Gurken, Bananen, Äpfel, Granatäpfel. Als Getränke stehen Wasser, Cola und Säfte bereit, für die Viktoria vorsorglich Pappbecher mitführt. Zuletzt kommen die Pappbecher noch einmal zum Einsatz, um den Imbiss mit usbekischem Cognac oder usbekischem Wodka abzuschließen. Beide Getränke schmecken bemerkenswert gut. Selbstverständlich kosten wir nur aus rein medizinischen Gründen von ihnen, um unserem westeuropäisch unter-trainierten sensiblen Immun- und Verdauungssystem ein wenig zu helfen. Ein Desinfektionstuch für die Hände kann auch nicht schaden.
Alltagskultur und Hochzeitsbräuche in Usbekistan
Nach einstündiger Pause im 'Kizilqum Teahouse' setzen wir die Fahrt fort. Zum Mittagsschläfchen berieselt uns Viktoria zunächst mit Orient-Pop einer CD. Nach Ablauf der CD setzt Viktoria ihre Berichte und Informationen über Alltagskultur in Usbekistan zu verschiedenen Themen fort und spricht über politische Kultur, Wirtschaftssystem, Schul- und Bildungssystem, Zusammenleben der unterschiedlichen Ethnien, Institution der Mahalla (Selbstorganisation der Stadtviertel), Praktizierung von Religion, Traditionspflege, familiäres Zusammenleben, geschlechtsspezifische Rollenverteilungen, Familienplanung, Kindererziehung etc.. Besonders intensiv erinnern wir uns an Berichte über Hochzeitsbräuche.(7)
Ehen werden in Usbekistan überwiegend arrangiert. Arrangierte Ehen sind keine Zwangsehen. Heiratsvermittler sorgen dafür, dass sich die potentiellen Brautleute vor der Eheschließung 2-3 Mal sehen und die Familien ihrer möglichen Partner kennenlernen. Bei Nichtgefallen ist von beiden Seiten eine Ablehnung möglich. Für Heiratsvermittler wäre das sehr peinlich, weshalb sie die Auswahl vermeintlich zueinander passender Partner sehr sorgfältig betreiben. Wenn eine Ehe zustande kommt, wird sie sehr groß (und dementsprechend teuer) mit mehreren hundert Gästen in einer festgelegten traditionellen Choreografie zelebriert.
Durchschnittliche Usbeken können eine derartige Anzahl von Gästen nicht bewirten. Darum weichen sie auf Hochzeitspaläste aus, die selbst in kleinen und meistens ärmlich wirkenden Ortschaften bei der Durchfahrt als auffällig herausgeputzte orientalische Paläste beeindrucken. Im Hochzeitspalast organisiert ein Hochzeitsmanager den Ablauf traditioneller Hochzeitsriten in mehreren Blöcken, an denen unterschiedliche Gäste teilnehmen. Ein weiterer Block verlangt das öffentliche Zeigen der Heirat. Über mehrere Stunden ziehen die Brautleute mit großem Gefolge durch Parkanlagen oder zu besonderen Sehenswürdigkeiten in der Ortschaft der Feierlichkeiten. Die vorher traditionell gekleidete Braut trägt für diesen Umzug ein weißes Brautkleid und zeigt sich in der Öffentlichkeit gemäß vorgegebener Rolle mit sehr ernster Miene. In Samarkand und in Buchara trafen wir ständig auf solche Umzüge. Mitunter wird dabei auch Tanzmusik gespielt. Tanzen dürfen im Tross aber nur jüngere Frauen. Das Geschehen beobachtende Touristen werden zum Mittanzen aufgefordert.
Von Frauen wird erwartet und verlangt, dass sie jungfräulich in die Ehe gehen. Dementsprechend können die ersten nächtlichen Erfahrungen zu größeren Herausforderungen geraten. Eine Gruppe erfahrener Frauen hält sich im Haus der frisch vermählten diskret im Hintergrund bereit und leistet bei Bedarf Hilfestellungen. Von frisch verheirateten Paaren wird erwartet, dass sie während der ersten 40 Tage ihrer Ehe das Haus nur für absolut notwendige Aufgaben verlassen, vor allem aber die Zeit im Bett verbringen und möglichst das erste Kind zeugen.
Provinz Xorazm (Choresmien)
Unsere Fahrt führt durch mehrere usbekische Provinzen, zwischen denen Grenzstationen mit Kontrollen zu passieren sind. Offiziell handelt es sich um eine Maßnahme zur Kontrolle von radikalem politschem Extremismus. Wer für extremistische Anschläge durch Usbekistan reist, dürfte kaum so naiv sein, sich hier fassen zu lassen. Vermutlich geht es eher um Kontrolle der unewrünschten latenten Landflucht durch interne Migration nach Taschkent. Als letzte Provinz erreichen wir Xorazm. Der Name der Provinz leitet sich aus Choresmien, Landschaft einer Großoase am Unterlauf und der Mündung des Amudarjas ab. Hauptstadt dieser Provinz ist Urganch, in Fahrtrichtung ca. 30 km vor Chiwa, unser Zielort.
In Xorazm treffen wir auf Landwirtschaft. Bewässerungskanäle leiten Wasser aus dem Amudarja auf Felder, die bei der Durchreise den Eindruck erwecken, dass Landwirtschaft in dieser Region nur sporadisch in kleinem Stil und weder konsequent noch ertragreich betrieben wird. Usbekistan leidet an einer extrem ungleichmäßigen Entwicklung seiner Regionen, die gemäß politischer Agenda selektiv und gezielt gefördert werden. Taschkent wird großzügig modern ausgebaut. Samarkand und Buchara genießen hohe staatliche Investitionen für die Renovierung der Stadtzentren rund um den blühenden Tourismus. Gefördert wird auch die potentiell instabile Region des Ferghanatals. Andere Regionen und die kleinen oder mittleren Dörfer auf dem Land sind dem Zerfall überlassen und leiden unter starken Mängeln öffentlicher Infrastruktur. Wer sich mit diesen Zuständen nicht zufrieden gibt und seine Lebensbedingungen verbessern möchte, emigriert nach Russland als Wanderarbeiter. Aufgrund der Landflucht bluten ländliche Regionen aus. Zusätzlich entsteht sozialer Sprengstoff, den extremistische Bewegungen für ihre Ziele nutzen.(9)
Ankunft in Chiwa - Fotoserie: Hotel Malika Khiva
Die Stadt Chiewa liegt inmitten der fruchtbaren und mit Hilfe von Bewässerungskanälen intensiv bewirtschafteten Großoase Choresm, die sich am Unterlauf des Amudarja und ehemals bis zur Mündung des Flusses in den Aralsee erstreckt(e). In der Gegenwart wird dem Amudarja für die Bewässerung riesiger Baumwoll-Monokulturen soviel Wasser entnommen, dass der Fluss den Aralsee nicht mehr erreicht, sein Restwasser in der neu entstandenen Wüste Aralkum versickert, der Aralsee dramatisch schrumpft und sich in der Region aktuell eine ökologische Katastrophe in Dimensionen abläuft, die zu den weltweit größten von Menschen produzierten ökologischen Katastrophen zählt.
Um kurz nach 18:00 Uhr treffen wir in Chiwa im Hotel Malika Khiva ein, von dem wir zum historischen Zentrum Itchan Kala blicken. Das Hotel ist uns ausgesprochen sympathisch. Unsere Gruppe belegt das überschaubare Hotel komplett. Nach dem Abendessen unternehmen wir einen kurzen Rundgang durch das nächtliche Itchan Kala und freuen uns auf eine spannende Besichtungstour am nächsten Tag.
Fortsetzung der Chiwa-Etappe: Weltkulturerbe Chiwa an der Seidenstraße in Choresmien, Usbekien.
Anmerkungen
- Turkmenistan gehört zu den weltweit restriktivsten Ländern.
- Lt. Demokratieindex zählt Turkmenistan zu den weltweit autoritärsten politischen Systemen und liegt aktuell auf Rang 162 von 167 (hinter Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan).
- In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen rangiert Turkmenistan auf dem drittletzten Platz, vor Nordkorea und Eritrea.
- Im CPI-Ranking (Korruptionsindex) liegt Turkmenistan auf Rang 167 von 180 (hinter Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan).
- Tagesspiegel: Aschgabat - eine Stadt voller bizarrer Architektur
- Deutschlandfunk: Orientalische Magie und brutale Despoten
- Süddeutsche: Wo Fröhlichkeit staatlich verordnet ist
- Spiegel: Merkels bizarrer Gast
- Spiegel: Präsident Berdimuhamedow wurde jetzt mit 97,7 Prozent im Amt bestätigt
- WELT: Am Tor zur Hölle in Turkmenistan - „Kysylkum“ bedeutet wörtlich roter Sand, aus dem Dünen der Wüste bestehen.
- Am Ausbau waren Unternehmen aus China und Korea sowie die deutsche Firma GP Papenburg beteiligt.
- Referenzen GP Papenburg international (PDF)
- Novastan.org: "GP Papenburg AG" möchte in Usbekistan Straßen bauen - 80 % der Fläche des Tieflandes von Turan zwischen dem Kaspischen Meer im Westen und dem zentralasiatischen Hochgebirge im Osten sind Sand- und Salzwüsten.
- Bernhard Peter:
- Die heutige Geographie von Usbekistan
- Die heutige Verwaltungsgliederung von Usbekistan - Wie die "makrokriminelle(n) Geschichte des hydraulischen sowjetischen Größenwahns" nicht nur Landschaften großräumig verändert, sondern auch Einfluss auf das Denken von Menschen nimmt und Kultur vergiftet, beschreibt eine Buchbesprechung der FAZ zu Frank Westermans "Ingenieure der Seele". Schriftsteller unter Stalin - Eine Erkundungsreise: Wasser und Macht
Artikel zur ökologischen Katastrophe des Aralsees:
- Russia Beyond the Headlines (ehemals 'Russland Heute'): Das weiße Gold: Wie die Baumwolle zum Fluch einer Sowjetrepublik wurde
- Novastan.org: Baumwolle in Usbekistan
- Novastan.org: Die vielen Gesichter des Aralsees
- Welt: Wie aus dem Aralsee eine Salzwüste wurde
- National Geographic: Zentralasien - Es war einmal ein See
- Spiegel: Die Insel der Tränen
- Artikel und Blog-Einträge zu Hochzeitsbräuchen in Usbekistan:
- Novastan: Usbekische Hochzeitstradition
- Novastan: Der Hochzeitspalast
- Hochzeit in Usbekistan
- Heiratsverhalten
- Hochzeit in Schachrisabs - Novastan.org: Landflucht
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