Nach spannender Anreise am Vortag (Post vom 15.10.2018) durch die Kysylkum-Wüste nach Chiewa (Khiva, Xiva) unternehmen wir heute in Chiewa eine Zeitreise durch die aus der Zeit gefallene innere Stadt Itchan Kala. Unter der sichtbaren Oberfläche der inneren Stadt verbirgt sich eine in menschlicher Siedlungs- und Kulturgeschichte weit zurückreichende Frühgeschichte, deren Ursprünge im Dunkel liegen. Lücken zwischen Frühgeschichte und Gegenwart füllen Narrative über Historie, die dieser Post ergänzt.(1)
Der aktuelle Post ist Teil einer Post-Serie, die über Etappen und Erlebnisse einer Reise entlang der Seidenstraße in Usbekistan berichtet:
- Reise nach Taschkent in Usbekistan
- Reise von Taschkent nach Samarkand an der Seidenstraße
- Reise auf der Großen Seidenstraße von Samarkand nach Buchara
- Buchara-i-Scherif an der Seidenstraße in Usbekistan - Part 1
- Buchara-i-Scherif an der Seidenstraße in Usbekistan - Part 2
- Reise auf der Großen Seidenstraße von Buchara nach Chiwa
- Reise von Chiwa nach Taschkent
Chiwa, Usbekistan
Chiwa ist eine alte Oasenstadt in Transoxanien westlich des Amudarja an der antiken Seidenstraße in der usbekischen Provinz Xorazm. Die innere Stadt Itchan Kala repräsentiert auf rechteckigem Grundriss das historische Chiewa, um das sich im 19. Jahrhundert die Außenstadt Dischan Kala entwickelte. Beide Komplexe waren von Stadtmauern umgeben. Von Dischan Kalas Stadtmauer sind nur Ruinen erhalten. In der Neuzeit ist Chiewa über Dischan Kala hinaus gewachsen und hat aktuell ca. 60.000 Einwohner. Itchan Kala ist seit 1990 UNESCO-Welterbe und lebt in der Gegenwart vom Tourismus, der allein 4000 Einwohner der inneren Stadt und vermutlich etliche weitere Einwohner ernährt. Ohne Tourismus wäre Itchan Kalas hervorragender Erhaltungszustand undenkbar und die Welt kulturell ärmer. Touristen sind im Freilichtmuseum Itchan Kala völlig zu Recht tief beeindruckt von dem, was sie sehen. Die sichtbare Oberfläche dieser Stadt ist jedoch eine Hülle. Prozesse der Globalisierung verwischen kulturelle Differenzen zunehmend und lassen Auswüchse vergessen, deren Grausamkeiten, Terror und Horror jeden Vergleich mit fiktionalen Stories bestehen.(2)
In der inneren Stadt Itchan Kala treffen Besucher auf ein dichtes mittelalterlich oder archaisch anmutendes orientalisches Architektur-Ensemble, das persische, griechische, islamische und mongolische Einflüsse vermengt. Aus frühen Jahrhunderten sind nur wenige Relikte erhalten. Die ältesten von ihnen reichen bis zum 10. Jahrhundert zurück. 51 historische Großbauten Itchan Kalas entstanden überwiegend im 18. und 19. Jahrhundert im traditionellen historischen Stil.(3)
Itchan Kala, Buchara, Samarkand verdanken ihren Glanz orientalischem Despotismus, dessen Machtausübung grundsätzlich krisenanfällig ist, weil sie auf Personenabhängigkeit beruht und nur solange aufrecht erhalten bleibt, wie permanante Kriegsaktivitäten, tödliche Machtkämpfe, hemmungslose Grausamkeiten und ungezügelte Ausbeutung dominant durchsetzbar sind. In Krisenzeiten brechen Chaos und Anarchie aus.(4)
Ereignisse und Objekte werden erst in ihren Kontexten verständlich. Die großartige Architektur von Städten an der antiken Seidenstraße ist auf blutgetränkten Fundamenten zahlloser Opfer errichtet. Experten sind diese Kontexte vertraut. Touristen schauen auf Objekte. Über historische Ereignisse und ihre Kontexte erfahren sie von Reiseleitern oder aus Reiseführern wenig, weil Zeit, Menge der Eindrücke und Aufnahmekapazität Reisender begrenzt sind. Wer mehr erfahren möchte, muss Historie befragen und in historische Reiseberichte schauen, sollte aber nicht übersehen, dass historische Narrative mit sinnstiftenden Deutungen angereichert sind.(5) Informationen zur Kultur und Geschichte einer Region öffnen Türen zu zuvor verschlossenen Räumen, weshalb der Beschreibungen von Sehenswürdigkeiten ein historischer Überblick vorangestellt ist und Sehenswürdigkeiten nachfolgend in ihrem historischen Kontext beschrieben sind.(6)
Unsichtbares über Choresmien und Chiwa im historischen Zeitraffer
- Die Großoase Choresm gehörte schon früh zu Zentren menschlicher Hochkultur. Älteste Siedlungsspuren gehen auf die Kelteminar-Kultur zurück (5500–3500 v. Chr.), eine neolithische archäologische Kultur sesshafter Fischer und Jäger. Stammesgemeinschaften von 100 bis 120 Personen lebten in Langhäusern mit bis zu 24x17 m Grundfläche und bis zu 10 m Höhe. Mitglieder der Clans schmückten sich mit Perlen aus Muscheln, stellten Steinäxte und Pfeilspitzen her und benutzen Tongefäße zum Kochen.
- Im Kulturraum der Amudarja-Region folgten Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit-Kulturen, u.a. BMAC und Andronowo-Kultur. Gesichertes Wissen über diese Kulturen ist relativ schmal, aber systematisch dokumentiert (History of Civilizations of Central Asia).
- Im 6. Jahrhundert v. Chr. bestand bereits das unabhängige Königreich Choresmien, das unter Vishtaspa und Kyros dem Großen zu einer Satrapie des ersten persischen Großreichs der Achämeniden wurde.
- Mit erfolgreichen Feldzügen in Asien löste Alexander der Große das persische Achämenidenreich ab. Der choresmische König Pharasmanes (Farasman) verhinderte die Eroberung des Landes und sicherte dessen Unabhängigkeit, indem er im Jahr 329/328 v. Chr. ein Bündnis mit Alexander dem Großen schloss.
- Im Altertum soll Chiwa Rastplatz und Umschlagplatz von Karawanen gewesen sein und war spätestens im 6. Jahrhundert von einer Mauer umgeben.
- Um 780 wurde der Universalgelehrte Abu Dschaʿfar Muhammad ibn Musa al-Chwārizmī in Chiwa geboren, von dessen Name sich der Begriff Algorithmus ableitet. Al-Chwarizmi lebte als Gelehrter in Bagdad und arbeitete dort im Haus der Weisheit.
- Während der islamischen Expansion setzte in Choresmien eine allmähliche Islamisierung ein. Die Region blieb aber bis im 9. Jahrhundert unabhängig.
- Im 10. Jahrhundert erwähnte al-Maqdisī Chiwa als eine bedeutende Handelsstadt.
- Im frühen 13. Jahrhundert setzte unter Dschingis Khan der Mongolensturm ein. Um 1220 eroberten Mongolen das Reich der Choresm-Schahs, töteten mehrere Millionen Menschen und zerstörten sämtliche blühende Metropolen, darunter auch Chiwa.
- 1388 eroberte und zerstörte Timur die nach 1220 wieder aufgebaute Stadt Chiwa.
- Vereinte usbekische Stämme eroberten im 15./16. Jahrhundert Transoxanien. Sie lösten die Timuriden-Dynastie mit kriegerischen Mitteln ab und gründeten als Scheibaniden das Usbeken-Khanat.
- Aus dem Usbeken-Khanat spalteten sich im 16. Jahrhundert das Emirat Buchara und das Khanat Chiwa ab. 1511 wurde Chiwa Hauptstadt des Khanats, nachdem der Amudarja seinen Lauf geändert hatte. (Vorgänger als Hauptstadt waren bis 995 Kath und anschließend Gurgandsch, das heutige Köneürgenç.)
- Innere Konflikte, Überfälle durch Nomadenstämme und ständige Kriege schwächten das Khanat, das in der Folgezeit zerfiel. Ab dem frühen 18. Jahrhundert herrschten in Chiwa Chaos und Anarchie. Chiwa bestand nur noch aus 40 Familien, die in wild verstreuten einfachen Lehmhütten lebten.
- Von 1695 bis 1740 war Chiwa Vasall von Buchara. 1740 eroberten und zerstörten Perser unter Schah Nadir die Stadt, nachdem zuvor Chiwas Khan Ilbars (1728-40) mehrere persische Botschafter umgebracht hatte. Khan Ilbars wurde enthauptet und 12.000-20.000 persische Sklaven in Chiwa befreit.
- Mit der Ermordung von Schah Nadir endete 1747 die persische Besetzung.
- Mitte des 18. Jahrhunderts übernahm der Mongolenstamm der Khongirad (Qongirat) die Macht in . Er entwickelte die Infrastruktur im Khanat und begann mit dem Wiederaufbau der immer wieder veränderten Kunya Ark Zitadelle als Fürstenburg. 1804 rief Iltuzar Khan die Kongrat-Dynastie aus und startete sogleich einen Krieg gegen Buchara. Der am östlichen Kaspischen Meer lebende türkische Stamm der Yomuts nutzte Feldzug für einen Angriff auf die schutzlose Stadt. Iltuzar Khan eilte zurück, wurde von Bucharas Truppen gestellt und ertrank im Amudarja.
- Auf Iltuzar Khan (1804-06) folgte dessen Sohn Muhammad Rahim I (1806-25) aus der Kongrat-Dynastie. Ihm gelang die Wiederherstellung von Ordnung im Khanat. Er brachte eine Reihe nomadischer Turkstämme unter seine Kontrolle, etablierte einen zentralisierten Staat mit Provinzgouverneuren, verbesserte das Bewässerungssystem und ließ neue Kanäle anlegen. Muhammad Rahim I stiftete die Kutlug Murad Inak Medrese, die Abdullah Khan Medrese und baute das Pahlavan Mahmoud Mausoleum aus.
blühte auf, allerdings auf Kosten seiner Nachbarn. Wohlstand basierte auf Sklavenjagden, Sklavenarbeit und florierendem Sklavenhandel.(7) In Kooperation mit auf Plünderungswirtschaft spezialisierten turkmenischen Nomadenstämmen unternahm das Chiwa-Khanat jährliche Raubzüge und plünderte Ressourcen des Buchara-Emirats, der persischen Khorassan sowie turkomanischer und kasachischer Stämme. Menschen aus Nachbar-Regionen wurden in großer Anzahl versklavt, für Feldarbeiten und Bauarbeiten eingesetzt oder weiterverkauft. entwickelte sich zu einem berüchtigten und gefürchteten Brigantenstaat mit dem größten Sklavenmarkt in Zentralasien und war zugleich selbst der größte Sklaven-Dienstherr in Zentralasien. - Unter Muhammad Rahim I (1806-25) und seinen Nachfolgern
- Alla Kuli Khan (1825-1842),
- Rahim Kouli (1842-1845),
- Mohammed Amin Kahn (1845-1855), ermordert
- Abdullah Khan, Sohn von Mohammed Amin Kahn (1855-1856), getötet im Krieg gegen Turkmenische Yomuts
- Kutlug Murad Khan, Sohn von Mohammed Amin Kahn und Buder von Abdulah Khan (1856, 3 Monate), ermordet von seinem Vetter
- Saïd Mohammed Khan (1856-1864)
entfaltete Chiwa eine rege Bautätigkeit mit Architektur nach dem Vorbild Bucharas, die noch heute das Stadtbild prägt. -
Russland wollte eine Handelsroute nach Indien unter seine Kontrolle bringen. Gerüchte über Goldvorkommen im Amudarja weckten zusätzliche Begehrlichkeiten. 1717 schickte Zar Peter I.
von Russland (1682–1725) eine bewaffnete Handelsexpedition mit 4000 Mann unter der Führung von Prinz Alexander
Bekowitsch-Tscherkasski nach Chiwa. Die Expedition wurde in einer Falle vernichtet.
Nach dem Ende der Napoleonischen Kriege begann das russische Zarenreich mit der Ausweitung seiner Machtsphäre in Richtung Zentralasien. England verfolgte die gleichen Interessen aus der Gegenrichtung. Ab 1813 setzte der als ein. Um das Kampffeld auszuloten, schickte Zar Alexander I. den russischen Hauptmann - Mohammed Rahim Khan II (1845-1910) ist ab 1864 der letzte unabhängige Khan Chiwas.(9) Während seiner Regierung wird Chiwa 1873 von russischen Truppen unter General Kaufmann eingenommen. Mohammed Rahim Khan II kapituliert und unterzeichnet den Friedensvertrag. Wie bereits zuvor das Emirat Buchara wird auch das Khanat Chiwa unter russisches Protektorat gestellt. Sklaverei wird sofort abgeschafft. Darüber hinaus ändert sich das Leben innerhalb des Khanats kaum. Mohammed Rahim Khan II wird 1896 zum Generalleutnant der russischen Armee und 1904 zum Kavalleristengeneral ernannt.
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Asfandiar Khan (1871-1918) ist letzter regierender und ein schwacher Khan (1910-1918). Opium und Frauen sind ihm wichtiger als das Regierungsgeschäft. Star des Khanats ist
Islam Hodja, Schwiegervater von Asfandiar Khan
und unter Khan Mohammed Rahim II bereits Premierminister. Islam Hodja will das Khanat modernisieren und aus der Isolation befreien. Aus seinem Privatvermögen finanziert er eine Baumwollproduktion mit Bauernhöfen und Spinnereien, außerdem Krankenhäuser, Apotheken, ein Postamt mit
Telegrafie,
die Islam Hodja Medrese mit dem höchsten Minarett der Stadt, sowie Laienschulen. Der jede Modernisierung ablehnende Klerus will diese Entwicklung stoppen und lässt
Islam Hodja 1911 mit Billigung von Asfandiar Khan ermorden, vermutlich durch Kriegsminister Nazar Beg.
In nachfolgenden Revolutionswirren versinkt das Khanat in Chaos. Asfandiar Khans ist als Regent restlos überfordert. Nazar Beg wird verbannt. Turkmenische Stämme unter Djounaïd Khan übernehmen die Macht im Khanat. Nun muss Asfandiar Khans beseitigt werden. Djounaïd Khans Leute ermorden ihn 1918 in seinem Palast in Nouroullah-Baï. Im Februar 1920 besiegt die Rote Armee Djounaïd Khan und löst das Khanat Chiwa auf. - Nachfolgestaat ist von 1920 bis 1925 die Choresmische Sowjetische Volksrepublik mit Chiwa als Hauptstadt.
- 1925 wird die Volksrepublik Choresmien aufgelöst, umverteilt und teilweise eingegliedert in die Usbekische Sozialistischen Sowjetrepublik innerhalb der Sowjetunion.
- Seit der Unabhängigkeit Usbekistans 1991 gehört Chiwa zur usbekischen Provinz Xorazm bzw. Choresmien (Hauptstadt Urganch).
Rundgang in Itchan Kala - Fotoserien: Gruppenführung in Itchan Kala, Nacht in Itchan Kala, Hotel Malika Khiva
Vom Hotel Malika Khiva blicken wir zur Stadtmauer mit dem Westtor Ota Darvoza, hinter dem das Wahrzeichen Chiwas aufragt, das Kalta Minor Minarett. Besucher betreten durch das Westtor die innere Stadt auf der Pachlavan-Makhmud-Straße, Chiwas Shopping-Meile, in der Besucher unvermeidbare Verkaufstände mit unaufdringlichen Verkäufern passieren. Gleich hinter dem Westtor ziehen Pelzmützen und Pelzschals bei heute einstelliger Temperatur die Aufmerksamkeit unserer Gruppe auf sich. Sehenswürdigkeiten sind erst später an der Reihe.
Aus Richtung Westen dominiert der 26 m hohe Stumpf des mit türkisfarbenen, grünen und weißen glasierten Fliesen bedeckten Minaretts Kalta Minor (= kurzes Minarett) vor der Amin Khan Medrese das Stadtbild. Das 1853-1855 gebaute Minarett sollte ursprünglich 70-80 m hoch werden und wäre damit das größte und höchste Minarett in Zentralasien geworden, aber es wurde nie fertiggstellt.(10) Auftraggeber von Minarett und großer Amin Khan Medrese(11) war Mohammed Amin Kahn (1817-1855) aus der usbekischen Kongrat-Dynastie, der 1846 die Macht im Khanat Chiwa übernahm und während seiner Regierungszeit permanente kriegerische Auseinandersetzungen mit Nachbarstaaten und Nomadenstämmen führte.
Kunya Ark Zitadelle, Hauptplatz, Mohammed Rahim Khan Medrese, Tash Hauli Palast - Fotoserie: Kunya Ark, Tash Hauli
Nördlich von Kalta Minor und Amin Khan Medrese liegt die von einer hohen Mauer umgebene Kunya Ark Zitadelle, eine Festung in der Festung. Fundamente der Zitadelle werden auf das 5. Jahrhundert datiert. Persische Truppen unter Schah Nadir zerstörten 1740 Chiwa und die Zitadelle. Unter Iltuzar Khan (1804-06) begann Anfang des 19. Jahrhunderts der unvollständige Wiederaufbau. Die fürstliche Stadtburg kann lediglich vom Hauptplatz in Itchan Kala durch einen Zugang auf der Ostseite betreten werden.
Der Hauptplatz war Marktplatz (u.a. für den Sklavenhandel), Paradeplatz und Gerichtsplatz für öffentliche Bestrafungen (i.d.R. Verstümmelungen), mit denen man sich jedoch meist nicht lange aufhielt, sondern Hinrichtungen in verschiedenen Varianten praktizierte, wie Sturz vom Minarett, Enthauptung, Erhängen, Pfählung sowie bei Ehebruch Steinigung oder Säcken.(12)
Den Anführer der turkmenischen Yomut ließ Mohammed Amin Kahn durch Sturz vom Minarett der Juma Moschee umbringen, eine in Transoxanien übliche und relativ gnädige Art der Hinrichtung. Während eines Kriegszugs rächten sich die Yomuts und enthaupteten Mohammed Amin Kahn 1855. Enthauptungen waren keine große Sache, sondern Tagesgeschäft.(13)
Auf der Ostseite des Hauptplatzes befindet sich gegenüber der Kunya Ark Zitadelle die von Khan Mohammed Rahim II 1871 erbaute Medrese Mohammed Rahim Khan II.
Der neue Khan-Palast Tasch Hauli im östlichen Teil von Itchan Kala wurde ab 1830 in mehreren Phasen gebaut. Den Autrag erteilte Alla Kuli Khan (1825-1842) als Teil eines ehrgeizigen Bauprojekts, das eine Karawanserei, Basar und Medrese umfasste. Alla Kuli Khan verlangte die Fertigstellung innerhalb von 2 Jahren. Als Architekt Usta Nur Mohammed Tajikistan den Zeitplan als 'mission impossible' zu bedenken gab, ließ der Khan ihn pfählen und beauftragte einen anderen Architekten. Trotz Einsatzes von 1000 persischen Sklaven gelang die Fertigstellung erst nach 8 Jahren. Tasch Hauli blieb Residenz der Khans, bis Mohammed Rahim Khan II in den 1880er Jahren in die Kunya Ark Zitadelle zurückkehrte.
Mittagsimbiss im Teahouse Mirza Boshi - Fotoserie: Mittagsimbiss
Im Zentrum von Itchan Kala hat Reiseleiterin Viktoria im Teahouse Mirza Boshi für den Mittagsimbiss reserviert. Die meisten unserer Reisegefährten lassen sich eine Vorspeise und/oder ein Hauptgericht servieren, deren Qualität gelobt wird. Uns reichen Tee und frisches Brot aus dem Tandoori-Ofen.
Mausoleum-Komplex Pahlawan Mahmud - Fotoserie: Pahlawan Mahmud
Chiwas hoch verehrter Volksheiliger Pahlawan Muhmud (1247-1326) ruhte in einem bescheidenen Mausoleum, das der alternde und von "monströs grausam" bezeichnete Khan Muhammad Rahim I (s.o.) ab 1810 durch ein prächtiges neues Mausoleum ersetzen ließ, weil sein eigenes Grab einen Ehrenplatz unter der Smaragdkuppel des Neubaus einnehmen sollte. Der Hauptraum unter der Kuppel fungiert als Moschee. Majolikakacheln im Hauptraum zeigen fein gezeichnete stilisierte Pflanzenmotive in islamischer Ornamentik. Im Hauptraum befinden sich Kenotaphe des Sponsors und weiterer Khane. Ein Kenotaph für Pahlawan Muhmud steht in einer unzugänglichen Nische und ist von einem Nebenraum einsehbar.
Das Mausoleum liegt in einem Gebäudekomplex mit zahlreichen Kuppelgräbern möglichst nahe beim Volksheiligen. An einem Innenhof schließt eine Derwisch-Herberge an.
Bei einer Heirat in Chiwa gehört der Besuch des Mausoleums zum Standardprogramm jeder Hochzeitsgesellschaft, weil Pahlawan Mahmud als Schutzpatron der Kinderfruchtbarkeit gilt. Braut und Bräutigam betreten mit Gefolge das Mausoleum, um vom Mullah einen Segen zu erbitten. Anschließend trinkt die Braut 'heiliges Wasser' aus dem Brunnen im Innenhof. Das 'heilige Wasser' garantiert Kinder. Nichts ist wichtiger als Kinder. 'Heilige Wasser' des Brunnens entfaltet mehr Nutzen. Wer ein Glas Wasser trinkt, lebt hundert Jahre. Zwei Gläser garantieren ein doppelt so langes Leben. Drei Gläser zeugen von Gier und töten Gierige an Ort und Stelle.
Auch in Usbekistan ist niemand naiv genug, um solche Versprechen wörtlich zu nehmen. Aber in Usbekistan (und nicht nur dort) hat sich magisches Denken erhalten, das die Einhaltung traditioneller Riten verlangt, um Unglück zu vermeiden.
Der Mullah betet auch für unsere Gruppe und erwartet Spendenbereitschaft als Gegenleistung für erteilten Segen (eine Tauschbeziehung vom Typ „Tit for Tat“ mit magischer Konnotation).
Juma Moschee - Fotoserie: Juma Moschee
Ein Höhepunkt Chiwas ist die äußerlich völlig unscheinbare Juma Moschee (Freitagsmoschee), die ohne Portale, Kuppeln oder Innenhof seit Ende des 18. Jahrhunderts einen Vorgängerbau ersetzt. In der Blickachse einer Kreuzung der beiden größten Straßen der Stadt steht das 52 m hohe Minarett der Moschee. In der Moschee tragen mehr als 200 Holzsäulen eine flache Holzdecke. Der Anblick erinnert an die Mezquita von Córdoba. 25 Säulen gelten als Originale aus dem 10. bis 16. Jahrhundert. Vier dieser Säulen stammen vermutlich aus dem 10./11. Jahrhundert, erkennbar an kalligraphischen Sufi-Schriftzeichen und tiefen Reliefs. Im Zentrum der Moschee befindet sich ein kleiner begrünter Lichthof, der den Innenraum in magisches Licht taucht. Neben dem Lichthof steht ein Brunnen mit 'heiligem Wasser'. Die zoroastrische Architektur des Brunnens ist Relikt eines ehemaligen zoroastrischen Tempels an diesem Ort.
Islam Hodscha Moschee und Minarett - Fotoserie: Islam Hodscha
Islam Hodja, Premierminister unter Khan Mohammed Rahim II und Schwiegervater von Asfandiar Khan, wollte Anfang des 20. Jahrhunderts das Khanat modernisieren und aus Isolation befreien. Er finanzierte aus seinem Privatvermögen Krankenhäuser, Apotheken, eine Baumwollproduktion mit Bauernhöfen und Spinnereien, ein Postamt mit Telegrafie, Laienschulen sowie die Islam Hodja Medrese, dessen 56,6 m hohes Minarett höchstes Minarett der Stadt ist. Besucher können gegen eine kleine Gebühr durch ein enges, dunkles Treppenhaus auf das Minarett steigen. Eigene Kopflampen leuchten uns. Der Aufstieg erfordert auf ausgetretenen und unterschiedlich hohen Stufen Vorsicht und ausreichende Fitness. Der Ausblick belohnt alle Mühen.
Weniger erfolgreich waren Islam Hodjas Bemühungen der Modernisierung. Sie trafen auf Ablehnung durch die hohe Geistlichkeit. Derartige Konflikte beendete man in Chiwa nicht mit Hilfe von Diskursen, sondern tatkräftig auf traditionelle Art. Islam Hodja muss verschwinden, entschiedt der Klerus. Die Beseitigung von Feinden ist für Kriegsminister Nazar Beg Routine. Vermutlich übernahm er mit Billigung von Asfandiar Khan 1911 die Ermordung Islam Hodjas (siehe "historischer Zeitraffer").
Wohnviertel und Stadtmauer Itchn Kala - Fotoserie: Wohnviertel & Stadtmauer
Freizeit nach dem Gruppen-Rundgang nutzen wir für ein individuelles Programm. Wir steigen auf das Islam Hodja Minarett (s.o.), schauen uns im Wohnviertel von Itchan Kala um und unternehmen eine Spaziergang auf und entlang der Stadtmauer.
Im Zentrum der inneren Stadt Itchan Kala liegen 51 historische Großbauten. Nördlich und südlich des Zentrums befinden sich Wohnviertel mit insgesamt 250 Wohnhäusern für ca. 4000 Bewohner. Die meisten der Wohnhäuser in Lehmbauweise wirken eher schlicht, aber wir sehen keine verwahrlosten oder ärmliche Häuser. Der äußere Anblick besagt ohnehin wenig. Wie überall in Usbekistan sind Wohnhäuser nach außen schmucklos. Wer über privaten Wohlstand verfügt, zeigt ihn zumindest nicht mit seinem Haus.(14)
Durch das Wohnviertel führen vernachlässigt wirkende sandige Gassen mit tiefen Schlaglöchern. Für stärkere Regenfälle sind die Gassen nicht ausgelegt, aber es regnet ohnehin nur selten und dann eher nur in kleinen Portionen.
Itchan Kala ist rundum von einer mächtigen, 2,2 km langen Stadtmauer eingeschlossen, die ehemals von einem nicht mehr existierenden Wassergraben umgeben war. Fundamente der Stadtmauer stammen aus dem 5. Jahrhundert. In der langen Stadtgeschichte wurde die Mauer mehrmals geschliffen und wieder neu aufgebaut. In der Gegenwart erinnert die äußere Stadtmauer an eine riesige Sandburg. Die Stadtmauer hat eine Tiefe von 5-7 m und ist bis zu 10 m hoch. Auf der Krone der Mauer verläuft stadtseitig ein breiter Wehrgang entlang einer geschwungenen Zinnenmauer mit Gucklöchern oder Schießscharten. Am Nordtor Bakcha Darvaza führt eine holprige Rampe auf die Stadtmauer. Der Wehrgang auf der Krone ist komfortabel zu gehen. An der Kunya Ark Zitadelle endet der Spazierweg.
Entlang der Außenmauer von Itchan Kala kehren wir zurück zum Hotel Malika Khiva vor dem Westtor Ota Darvoza.
Abendprogramm mit Sektempfang, Dinner und Folkore - Fotoserien: Terrassa Café, Dinner mit Folklore, Nachtbilder Itchan Kala
In der inneren Stadt Itchan Kala unterbrechen wir den Weg zum Restaurant am Hauptplatz von Itchan Kala für eine von Reiseleiterin Viktoria angekündigte Überraschung. Viktoria hat im Terrassa Café einige Flaschen usbekischen Sekt kaltstellen lassen und lädt die Gruppe zu einem Sektempfang ein. Viktoria hält eine kleine Ansprache, die sie mit einem obligatorischen Trinkspruch enden lässt und dabei in jedem Satz mindestens einmal „Inshallah“ einflechtet. Die Stimmung in der Gruppe ist und war auch ohne Sekt stets hervorragend. Mit Sekt erfährt sie eine Steigerung.
Sektproduktion müssen Usbeken noch lernen. Wenn wir nicht wüssten, dass sich Sekt im Glas befindet, wäre das moussierende Süßgetränk schwer zu identifizieren. Aber es geht ja eher um die Geste und um die Stimmung in der Gruppe gegen Ende einer intensiven, ereignisreichen Orientreise. Immerhin genießen wir vom Terrassa Café am Hauptplatz inmitten des historischen Zentrums einen attraktiven Rundblick im Abendlicht.
Unser Dinner nehmen wir in einem Familienrestaurant im Wohnviertel zwischen Hauptplatz und Nordtor Bakcha Darvoza ein. Das Restaurant besteht aus mehreren Zimmern, in denen Reisegruppen bewirtet werden. Wie in allen besuchten Restaurants ist auch hier die Raumatmosphäre sachlich-kühl und das Licht viel zu hell. Zum usbekischen Standard scheinen auch schief aufgehängte Bilder zu zählen. Usbeken kennen vermutlich nicht den Loriot-Sketch Das Bild hängt schief und müssen darum keine Zimmerverwüstung befürchten, wenn sie Bilder ausrichten. Es muss eine andere Erklärung geben, die wir jedoch nicht kennen. Essen und Service sind im Restaurant jedenfalls tadellos und lassen andere Eindrücke weit hinter sich.
Zum Ende der Mahlzeit lüftet Vitkoria das Geheimnis der zweiten angekündigten Überraschung. Eine aus 4 Männern, 2 Frauen und 2 Jungen bestehende Folkloregruppe strömt in das Zimmer, stellt sich an der Fensterfront auf und unterhält uns mit usbekischen Liedern, die sie mit traditionellen Instrumenten begleiten. Für den Gesang sind die beiden Frauen zuständig. Zum Gesang zeigen sie abwechselnd anmutig-fließende orientalische Tanzfiguren mit ausladenden Armbewegung und symbolischen Handstellungen. Erotische Konnotationen der Tänze sind nicht zu übersehen.
Nach den beiden Frauen sind die beiden Jungen abwechselnd als Tänzer an der Reihe. Ihre Bewegungen vermitteln keine Anmut, sondern Mut, Wildheit, Entschlossenheit und lassen sich als kriegerische Konnotationen deuten.
"Folklore (engl. folk „Volk“ und lore „Überlieferung“ oder „Wissen“) ist der sichtbare Ausdruck des immateriellen kulturellen Erbes einer ethnischen oder religiösen Gemeinschaft".(15)
Den Text der Lieder verstehen wir so wenig wie Besonderheiten orientalischer Musik oder Bedeutungen von Symbolik des Tanzens. Wir verstehen jedoch, dass die beiden Jungen in der fragwürdigen Tradition der Bacha bazi ('Tanzknaben' bzw. 'Knabenspiele') agieren, die insbesondere in Transoxanien verbreitet war und in Afghanistan noch immer praktiziert wird.(16)
Unsere Reisegruppe zeigt Begeisterung und belohnt Vorführungen mit großem Applaus. Die Folkloregruppe fordert uns zum Mitmachen auf. Sechs Frauen und ein Mann unserer Gruppe lassen sich ermuntern und üben orientalischen Tanz. Anders als gesprochene Sprache ist Tanz jenseits von Feinheiten des Ausdrucks eine universelle Körpersprache, die Interkulturalität zwischen fremden Kulturen ermöglicht. Deutlich wird auch, dass Tänze mit erotischen Konnotationen über Kulturen hinweg eher Frauensache sind.
Beschwingt treten wir den Heimweg zum Hotel Malika Khiva durch das jetzt ruhige und fast menschenleere historische Zentrum an, das wir durch das Westtor Ota Darvoza verlassen.
Anmerkungen
- Claude Lévi-Strauss, Papst zeitgenössischer Ethnologie, forschte in und über schriftlose(n) Kulturen und gewann Erkenntnisse aus der Analyse von Mythen dieser Kulturen. In einem seiner letzten Interviews vor seinem Tod erklärte auf die Frage nach der Bedeutung von Mythen in modernen Gesellschaften:
"(...) in den zeitgenössischen Gesellschaften (ist) mythisches Denken unmöglich geworden (...). Außer in einem begrenzten Fall: der Geschichte. Von ihr erwarten wir, dass sie uns die Vergangenheit und die Gegenwart erklärt und unsere Haltung bezüglich der Zukunft legitimiert. Und dies ausdrücklich aus unserem Verständnis zur Vergangenheit, als Funktion ihrer Deutung."
Claude Lévi-Strauss im Interview mit der FAZ: Der Mensch ist eine optische Täuschung
Noch deutlicher spricht der Historiker Valentin Groebner über Arbeit von Historikern als 'Erfindung' und 'Inszenierung' von Vergangenheit:
"Leute, die sich ernsthaft für Geschichte interessieren, erkennt man daran, dass sie nie einer Meinung sind. Die Vergangenheit ist ein großer unaufgeräumter Keller. Es ist ein bisschen feucht und dunkel und riecht auch ein bisschen komisch dort. Wir gehen hinunter und holen uns, was unseren Wünschen entspricht. Die Vergangenheit ist der Ort, den wir nicht mehr in Ordnung bringen können. Es sei denn, wir holten ganz bestimmte Dinge heraus und setzen sie neu zusammen. Und das ist es ja, was wir tun."
FAZ, 9. Dezember 2018, Seite 45: Nichts ist echt, gar nichts - In Chiwa wird bewusst, wie Befangenheiten des eigenen Denkens unsere Wahrnehmung unbewusst beeinflussen. Kultureinflüsse eigener Sozialisation rahmen das eigene Denken mit unsichtbaren Grenzen und wirken auf unsere Wahrnehmung als Filter oder Siebe, die sich nicht bewusst ein- oder ausschalten lassen. Zusätzlich verstellt die Europa-Zentrierung unserer Bildung und Bildungseinrichtungen den Zugang zur zentralasiatischen Geschichte und deren kulturellen Artefakten. Über eine Lebensspanne erworbene Wahrnehmungs- und Denkmuster lassen sich nicht innerhalb von Stunden oder Tagen umprogrammieren, aber wir können uns um Zugang zu fremden und für uns oft rätselhafte Kulturen bemühen, was in der Tat mit 'Mühe' verbunden ist.
- Dieser Sachverhalt verweist auf eine bemerkenswert niedrige Dynamik des kulturellen und sozialen Wandels, durch den sich Itchan Kala
ohne planerische Absicht in der Vergangenheit zu einem absolut
bedeutenden orientalischen Freilichtmuseum in der Neuzeit entwickelt
hat. Die Erhaltung dieses Kultur-Ensembles bis zur Gegenwart dürfte auf mehreren Faktoren beruhen:
(a) Offensichtlich haben Richtungsänderungen des kulturellen Mainstreams die abgeschiedene Region ausgespart.
(b) Chiwa hat zwar als Handelsstadt Außenbeziehungen unterhalten, dem kulturellen Austausch hat sich Chiwa jedoch verschlossen.
(c) Lebensbedingungen in Choresmien übten offenbar wenig Veränderungsdruck auf Bewohner aus. - Orientalischer Despotismus und dessen aus heutiger Sicht unglaubliche Grausamkeiten beschränkt sich nicht auf die Städte Samarkand, Buchara, Chiwa oder deren Vorläufer der Oasenkultur in Zentralasien, ebenso nicht auf den Orient oder Asien und ist auch nicht dem Islam geschuldet. Karl Wittfogel lenkt in seinem Hauptwerk Die orientalische Despotie - Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht, 1957, den Blick auf politische und kulturelle Strukturen der Wasserwirtschaft.
- Unter Bedingungen hydraulischer Landwirtschaft, in der es zuviel oder zu wenig Wasser gibt, entstehen Großbauwerke künstlicher Bewässerungssysteme. Diese erfordern einen hohen Grad an Kooperation, den eine Zentralgewalt mit einer herrschenden Klasse oder mit Kasten ermöglicht. Wer nicht zu mächtigen Kasten gehört, ist machtlos und der Willkür von Macht ausgesetzt. Neben Macht ist auch Wissen monopolisiert. Um diese aysmmetrische Machtverteilung nicht abzuschleifen, muss sie immer wieder durch grausame Akte der Willkür öffentlich bestätigt werden, was auch in ritueller Form erfolgen kann, z.B. durch regelmäßige Menschenopfer.
- Dass sich im Kontext von Großbauwerken künstlicher
Bewässerungssysteme der landwirtschaftlichen Produktion hydraulische Kulturen als despotische Regierungssysteme herausbilden, zeigt Wittfogel mit Verweisen auf
despotische Gesellschafts- und Herrschaftstypen an den großen Strömen des Euphrat, Jangtsekiang, Indus und Nil.
Ähnliche Kulturen lassen sich auch in Gebirgsregionen von Mittelamerika und in Peru identifizieren, wo jedoch die Landwirtschaft nicht von Flüssen abhängig war, sondern von bewässerten Terrassensystemen.
- In der fruchtbaren Großoase Choresmien wurde Landwirtschaft mit Hilfe großer Bewässerungssysteme betrieben, die Wasser des Amadurja mittels Kanälen auf Felder leitete. Überlieferte Exzesse der Grausamkeit sind vermutlich beeinflusst vom konfliktreichen Austausch zwischen sesshaften Kulturen und nomadischen Reitervölkern, eventuell auch von individuellen Charaktereigenschaften prägender Persönlichkeiten, aber Choresmien war vor allem eine hydraulische Kultur.
- Wittfogels Hypothese ist nicht unumstritten.
- "Der Universalhistoriker Arnold J. Toynbee warf Wittfogel vor, die von griechischen Historikern in der Antike erfundene Propaganda des „guten Europa“ und „bösen Asien“ zu bedienen" (Wikipedia: Karl August Wittfogel).
- Der Religionssoziologe Robert Bellah merkt an, dass der Anthropologe Timothy Earle und andere die "hydraulische Theorie" von Karl Wittvogel verwerfen. (Robert Bellah, Der Ursprung der Religion, Freiburg 2021, S. 281)
- Länder mit hydraulischen Kulturen sind nicht immer despotisch (z.B. Niederlande und Sri Lanka).
- Dass Wasserbau mit der Entwicklung
totalitärer Staatsbürokratie einhergeht, ist für die Induskultur fraglich.
Welche Faktoren Despotismus in der Landschaft der heutigen Niederlande verhindert haben, ist eine unbeantwortete Frage.
- Thomas Uwer und Thomas von der Osten-Sacken machen in einem Artikel der 'taz' darauf aufmerksam, dass historisch gewachsene despotische Strukturen tief im kollektiven Gedächtnis von Kulturen verwurzelt sind, was möglicherweise erklärt, warum nach Ablösung eines despotischen Systems die Implementierung demokratischer Strukturen zumindest kurzfristig misslingt: Die hydraulische Gesellschaft
Uwer/von der Osten-Sacken blicken zwar auf den Irak, aber die skizzierten Bedingungen gelten für die gesamte die Region des Fruchtbaren Halbmondes, ebenso für Usbekistan in Zentralasien und gelten möglicherweise auch für die Rassismus-Anfälligkeit westlicher Kulturen.
- Wie die "makrokriminelle(n) Geschichte des hydraulischen sowjetischen Größenwahns" nicht nur Landschaften großräumig verändert, sondern auch Einfluss auf das Denken von Menschen nimmt und Kultur vergiftet, beschreibt eine Buchbesprechung der FAZ zu Frank Westermans "Ingenieure der Seele". Schriftsteller unter Stalin - Eine Erkundungsreise: Wasser und Macht
- In orientalischen Despotien anzutreffende monströse Grausamkeiten sind jedoch keine Privilegien hydraulischer Kulturen, sondern ubiquitäre Begleiterscheinungen despotischer Terrorsysteme, unter denen nationalsozialistischer Terror in der Geschichte dieser Welt eine Spitzenposition einnimmt. Einen kompakten Überblick zu diesem Abschnitt beschämender deutscher Geschichte vermittelt Ulrich Herberts Buch „Das Dritte Reich – Geschichte einer Diktatur“.
- Eigene Aussagen und Wertungen beruhen nicht auf eigenen Erlebnissen, sondern sind beeinflusst von europäisch geprägter individueller Wahrnehmung und Denkweise. Kulturräume wie Europa und Zentralasien weisen neben ähnlichen und gemeinsamen Elementen eine große Menge disjunkter Elemente aus. Aus europäischer Sicht sind zentralasiatische Kulturen eine fremde Welt (und vice versa). Bilder dieser Welt setzen sich wie ein Mosaik aus einer Vielzahl von Detailinformationen zusammen. Aus hermetisch verschlossenen Kulturräume dringen nur wenige Informationen nach außen. Informationen aus dieser hermetisch verschlossenen Welt verdanken wir
Erlebnissen von Abenteurern, die Zentralasien unter Lebensgefahr bereisten und ihre Erlebnisse in Reiseberichten dokumentierten. Deutungen solcher Bilder sind nicht frei von Irrtümern. Frühe überlieferte Reiseberichte gehen zurück auf Johannes de Plano Carpini (1185-1252), Wilhelm von Rubruk (1215/20 - 1270), Marco Polo (1254-1324). Ergiebiger sind Reiseberichte aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert:
- Der russische Hauptmann
- Der ungarisch-jüdische Orientalist Hermann Vámbéry, der die Ursprünge der ungarischen Sprache erforschen wollte, ließ sich als britischer Spion anheuern. In der Verkleidung eines Sufi reiste von 1861 bis 1864 durch Zentralasien und berichtete u.a. über das Khanat Chiwa:
- Reise in Mittelasien. Leipzig 1865, 2. Auflage 1873 (PDF-Dokument 'Bayerische Staatsbibliothek Digital
- Skizzen aus Mittelasien. Leipzig 1867 (PDF-Dokument 'Bayerische Staatsbibliothek Digital - Der dänische Forschungsreisende Ole Olufsen, erkundete 1896 bis 1899 Zentralasien und berichtet über das Emirat Buchara:
Ole Olufsen: The Emir of Bokhara and His Country, 1911 (PDF-Dokument Internet Archive Library' - Der schwedische Geograph, Entdeckungsreisende und Reiseschriftsteller Sven Hedin erforschte und kartierte Zentralasien in riskanten Expeditionen zwischen 1894 und 1908. Wegen seiner Bewunderung Adolf Hitlers und seines Einsatzes für den Nationalsozialismus gerieten Sven Hedins Leistungen ins Abseits.
- Der russische Hauptmann
- Weitere Quellen zur Geschichte Chiwas und Choresmiens:
- Eine umfangreiche Dokumentation zur Geschichte Zentralasiens stellt die UNESCO Digital Library in 6 Bänden online und als downloadbare PDF-Dokumente bereit (in englischer Sprache): History of Civilizations of Central Asia
- Wikipedia deutsch:
Provinz Xorazm, Xiva, Khiva, Ichan Qal'a, Choresmien, Choresmien in der Antike, Achämeniden, Timuriden, Scheibaniden, Usbeken-Khanat, Khanat Chiwa,
- Wikipedia englisch:
Kelteminar-Kultur, Khanate of Khiva, Khongirad (Qongirat), Vishtaspa, Khwārezm
-
Wikipedia französisch:
Khanat de Khiva, Iltuzar Khan, Mohammed Rahim Khan, Alla Kuli Khan, Muhammad Amin Bahadur, Мohammed Rahim Khan II, Asfandiar Khan, Islam Hodja - Bernhard Peter: Die Khanate von Bukhara, Khiva und Qoqand
- Eine umfangreiche Dokumentation zur Geschichte Zentralasiens stellt die UNESCO Digital Library in 6 Bänden online und als downloadbare PDF-Dokumente bereit (in englischer Sprache): History of Civilizations of Central Asia
- Über "Sklavenhandel und Sklavenleben in Mittelasien" berichtet Hermann Vámbéry: Skizzen aus Mittelasien. Leipzig 1867, Seite 161-180.
Der Islam verbietet Sklavenhaltung nicht. Mohammed war selbst Sklavenhalter. (Wikipedia: Sklaverei im Islam)
Nach islamischem Recht dürfen nur Ungläubige versklavt werden, jedoch kein freier Muslim. Um Sklavenjagden in der Umgebung des Khanats und Sklavenhaltung innerhalb des Khanats zu rechtfertigen, erklärte Chiwa muslimische Sklaven fälschlicherweise zu Schiiten, obwohl Muslime in Zentralasien inkl. Iran dem sunnitischen Zweig angehören (Vámbéry, Reise in Mittelasien, s.o., S. 174).
Wenn Sklaven Fluchtversuche unternahmen und gefangen wurden, nagelte man sie zur Bestrafung für einige Tage mit den Ohren an das östliche Stadttor Palvan Davorza, schonte aber deren Leben, um sich als Sklavenhalter nicht selbst zu schädigen.
(Reisebericht , s.o., Seite 99) - Um Qualen von Gefangenen zu steigern, erfand Muhammad Rahim I neue Folter-Methoden. Aber auch sein persönliches Umfeld war nie sicher vor ihm. Er ließ jeden umbringen, von dem er glaubte, dass er ihm gefährlich werden könnte. Wer ihn bei verbotenem
Alkoholkonsum oder beim Rauchen überraschte, dem ließ er den Mund bis zu
den Ohren aufschlitzen.
(Reisebericht , s.o., Seite 140). - Hermann Vámbéry lernte Khan Mohammed Rahim II in Chiwa persönlich kennen und beschreibt dessen Leben als wenig beneidenswert und kläglicher als das Los der übrigen orientalischen Fürsten. Wo Raub, Mord, Anarchie und Gesetzlosigkeit zur Tagesordnung zählen, muss der Fürst mit der Verbreitung von Angst und Schrecken reagieren und sogleich islamische Tugend und usbekische Sitte vorleben. Selbst im engsten Familienkreis ist der Fürst äußerst unbeliebt und ständig von Mord bedroht. (Reise in Mittelasien, s.o., Seite 113f.)
- Zu diesem Sachverhalt kursieren 3 Erklärungen:
(1) Der Bau wurde aufgrund von Statikproblemen abgebrochen.
(2) Permanente kriegerische Aktivitäten verhinderten den Weiterbau.
(3) Der Tod des Auftraggeber Mohammed Amin Kahn führte zum Abbruch des Baus. - In der Amin Khan Medrese befindet sich das Orient Star Khiva Hotel.
- Hermann Vámbéry berichtet über die öffentliche Bestrafung von 300 turkmenischen Gefangen in Chiwa (Reise in Mittelasien, Seite 119): Die Gefangenen waren in 2 Gruppen aufgestellt und sahen nach mehreren Tagen Folter aus "wie aus dem Grabe aufgestanden". Gefangene in der Gruppe der Jüngeren wurden als Sklaven verkauft oder verschenkt. Die älteren Gefangenen wurden enthauptet oder gehängt. Eine Sonderbehandlung erhielten "Graubärte" als Anführer. Ihnen wurden die Augen ausgestochen. Die Bestrafung war eine Vergeltung für einen turkmenischen Überfall auf eine große Karawane, bei dem Ware von 2000 Kamelen geplündert wurde und von 60 Karawanenführern nur 6 überlebten.Hermann Vámbéry merkt an, dass Khan Mohammed Rahim II als Beschützer der Religion selbst das kleinste Vergehen mit äußerster Härte bestrafte. Ein Blick auf eine verschleierte Frau reichte aus, um einen Mann am Galgen zu erhängen. Die Frau wird neben dem Mann bis zur Brust in der Erde eingegraben und gesteinigt. (Reise in Mittelasien, s.o., Seite 120)
- Hermann Vámbéry beschreibt im Bericht seiner 'Reise in Mittelasien' einen festlichen Empfang der Helden der letzten Kampfhandlungen (Seite 121). 100 Reiter erreichen den Hauptplatz in Chiwa. Jeder von ihnen hat einige Gefangene bzw. Sklaven im Schlepptau und führt ein Bündel mit Köpfen enthaupteter Feinde mit sich. Die Bündel werden auf dem Hauptplatz geleert, Köpfe gezählt und aufgehäuft. Kriegshelden werden nach Anzahl abgelieferter Köpfe entlohnt. Belohnungen sind genormt und werden entsprechend der Anzahl abgelieferter Köpfe als 'vierköpfig', 'zwölfköpfig', 'zwanzigköpfig', 'vierzigköpfig' bezeichnet.
- Frauen demonstrieren Wohlstand, wenn sie in traditioneller Bekleidung mehrere Röcke übereinander anziehen. Als Zeichen demonstrativen Wohlstands gelten Goldzähne im Frontzahnbereich des Oberkiefers.
- Wikipedia: Folklore
- Das Thema Bacha bazi betrachtet der Post Buchara-i-Scherif (Buchara die "Edle, "Heilige") an der Großen Seidenstraße - Part 1 in der Anmerkung Nr. 5 zum Kontext Emirat Buchara.
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